Mitteilungen der Islandfreunde - 01.07.1919, Blaðsíða 19
gehend mit den Islándersagas zu befassen, ihnen gar eine Lebensarbeit zu
widmen. Sie seien zu arm und enthielten zu wenig, was fiir die gesamte
Menschheit Bedeutuug habe. Da möchte ich doch die mir so liebgewordenen
Sagas verteidigen uud kurz zusammenfassen, was sie mir persönlich geben
und was sie meiner Meinung nach den Menschen von heute iiberhaupt geben
können.
Ich will bei meiner Betrachtung so vorgeheu, daB ich von der Form zum
Inhalt komme. Nach der áuBeren Forrn sind die Islándersagas Kunstwerke
von starker, individueller Eigenart, die man mit ásthetischer Freude be-
trachten kann. Entwickelt haben sie sich aus der miindlichen Familien-
úberliefermig. Sie wollen Geschichte geben, zunáclist Familiengeschichte,
dann auch Bezirksgeschichte und Geschiclite der ganzen Insel. Auch die
norwegischen Königsgeschichten gestalteten die Sagamánner wie die heimat-
lichen Stoffe. Klar, kúhl utid’sachlich, mit stark kritischem Einschlag ent-
rollen sie die Bilder des altisláudischen Eebens und der Menschen. Allináh-
lich entfernte man sich vom Boden der Wirklichkeit, die Phantasie konnte
ziigelloser walten. Man kleidete die Stoffe der Heldensage in das Gewand
der Bauerngeschicliten. So entstanden Romane und Novellen in altislán-
discher Prosa. Es gebúlirt also nicht Boccaccio das Verdienst zuerst in der
europáischen Eiteratur die Kunstform der Prosanovelle angewandt zu haben.
Die Sagatnánner Islands haben ihm das vorweggenommen. DaB die PTOsa-
novelle trotzdem auf Boccaccio zurúckgeht und von den Sagas gánzlich un-
beeinfluBt ist, hángt damit zusammen, daB das gesamte nordisclte Geistes-
leben fúr das Mittelalter nicht da war und noch j ahrhundertelang seinen
Walkyrienschlaf schlief, bis ihm der Erwecker erstand und es fruchtbar
machte fúr die germanische Welt.
Einer der gröBten Vorzúge dieser altislándischen Prosa ist ihre Anschau-
lichkeit. In lebensvollen, plastisch herausgearbeiteten Auftritten zieht die
handlungsreiche Erzáhlung an uns vorúber. Dem Hörer oder Leser ist es
úberlassen, aus dem Tatsachenbericht die Gefúhle, Stimmungen und Ge-
danken der handelnden Personen zu erschlieBen. Ihre eigene Denkarbeit
wird stark in Anspruch genommen.
Der Stil ist der der gepflegten Umgangssprache. Das heiBt: er ist ganz
lebendig und ungekúnstelt. Es ist ein Denken vorwiegend in Hauptsátzen.
Wenn man Sátze unterordnet, gebraucht man fast imrner dieselbe Partikel.
Das gröBte Kunstmittel des Stils ist der Dialog. Ganze Auftritte verlaufen
oft ausschlieBlich in dramatischer Wechselrede. Man könnte sie mit wenig
Anderungen auf die Búhne briugen. Nebensáchliches fúgt der Erzáhler in
knappem Bericht an. Die Kunst des Dialogs meistern die Sagas naturlich
mehr oder weniger vollkommen.
2 Mitt. d. Islandfreunde VII, 1/2
17