Mitteilungen der Islandfreunde - 01.07.1930, Blaðsíða 6

Mitteilungen der Islandfreunde - 01.07.1930, Blaðsíða 6
der Entwicklungsgedanke an sich mit unserer These gut vereinbar. Er wörde ihr die Form geben: die Entwicklung ist, je weiter nach Norden, um so langsamer fortgeschritten, daher ist der Norden besonders reich an Uberlebseln (survivals), welche fúr die verschol- lenen ,,primitiven“ Stufen des Súdens aufklárend sind. Es wáre die Anwendung des Bastianschen „Völkergedankens" auf den engeren germanischen Kreis. Tatsáchlich hat man das ethnographische Schema, dessen Hauptstúck der evolutionistisch gefaBte Gegensatz zwischen „Primitivitát" und „Kultur" ist, an die germanischen Dinge heran- getragen, allerdings nicht zu einer neuen, selbstándigen Anwendung, bei der unsere heimischen Quellen den Stoff hergeben múBten, um die Begriffe zu fúllen, sondern nur in der Absicht, dem germanischen Material Belege abzugewinnen fúr eine unter- schiedslose Allgemeingúltigkeit des Völkergedankens. So wurde die Sagawelt abge- stempelt als ein interessanter Fall von „primitiver Gemeinschaft" (communauti primi- tive) und beredt dargelegt, wie sich die durch Individualismus gekennzeichnete „Kultur" aus jener urtumlichen Schicht hérausentwickelt habe, nicht anders, als das úberall in der Welt kraft Fatums geschehen sei und geschehe, also tiberall geschehen músse. Nur schade, daB diese oft wirksam vorgetragenen Erörterungen höchstens in gut beob- achteten Einzelheiten (ethnographischen Parallelen) einmal úberzeugen konnten. Im groBen litten sie ebensosehr an mangelnder Úberzeugungskraft von Ausgangspunkt und Gedankengang wie an der Abwesenheit eigentlicher, d. h. grúndlicher und un- voreingenommener, Quellénkunde. Die altnordischen Quellen bedúrfen nicht der ethnographischen Kommentierung, wie Frazer und nach ihm Kauffmann u. a. sie unternommen haben; im Gegenteil: sie verbitten sich in den meisten Fállen solche Kommentierung sehr entschieden, weil dadurch ihr eigener, fast immer befriedigend eruierbarer Sinn nur verdunkelt wird. Die altnordische Gesellschaft, wie sie in den Quellen erscheint, ist von den „primitiven Gemeinschaften" auf den Stidsee-Inseln oder in Australien in mehr und wesentlicheren Punkten verschieden, als sie ihnen gleicht oder áhnelt, vielleicht ebenso verschieden wie von den nícht báuerlichen Menschen- gruppen der Neuzeit, und die neuzeitlichen Bauernschaften, die man leichtherzig mit ihr gleichgesetzt hat, sind wiederum sehr anders (der Waffe beraubt und entwöhnt, von der Kirche beherrscht, Zeitungen lesend usw.). So hat das Entwicklungsdogma der paradigmatischen These zwar insofern genútzt, als es ihr einzelne evolutionistisch- ethnographisch geprágte Anhánger verschafft hat1, úberwiegend aber hat es ihr ge- schadet, da es dem philologischen Studium der Sachen und somit ihrer reinen Er- kenntnis feindlich und schádlich gewesen ist. Die poetischen Gedankenspiele, welche einst die Uhland, Simrock, Grundtvig und Rydberg aus AnlaB der Edden getrieben haben, konnten schwerlich abwegiger sein als die Stempelung Balders zum „heroi- sierten König" und áhnliche ethnographische Gewagtheiten. Da die Romantiker nicht bloB spekulative, sondern auch dichterische Geister waren, was ihre ethnographischen Nachfolger nicht sind, und die alten Texte groBenteils von Dichtern herrúhren, brachten jene unstreitig die besseren Voraussetzungen mit, und auch im Sprachverstándnis waren ihnen Frazer und Kauffmann u. a. nicht etwa úberlegen. So erklárt es sich, daB Grundtvigs Brage-Snak noch heute fúr den Kenner lesenswert ist, wáhrend die ver- háltnismáBig neuen Thesen jener anderen úber Germanisches als veraltet zu gelten haben. Da die Alleinherrschaft des entwicklungsdogmatischen Denkens lángst gebrochen und die Kenntnis des Altnordischen zusammen mit dem Interesse fúr Nordisches und fúr Altgermanisches úberhaupt unzweifelhaft in der letzten Zeit gewachsen ist, darf angenommen werden, daB die Grtinde fúr das erwáhnte Achselzucken im Jahre 1930 schwácher wirken als 50 oder 20 Jahre frúher. Und so halte ich die Zeit fúr gekommen, um die paradigmatische Hypothese einmal im Zusammenhange zu erörtern und den Versuch zu machen, ihre gewissermaBen aprioristische Úberzeugungskraft empirisch zu verstárken. Wesentliche Fortschritte der WiSsenschaft werden immer dadurch zu- wege gebracht, daB jemand einen guten Gedanken hat und dieser sich dann durch 1 Er láBt sich schon bei Autoren des 16. Jahrhunderts finden. 6

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