Milli mála - 2016, Blaðsíða 268
KUNST UND VANDALISMUS IM ZEICHEN DER MODERNE
268 Milli mála 8/2016
Versöhnung mit dem Tod. Falls das gesucht wirkt, so ist darauf
hinzuweisen, dass der Tod eine zentrale Rolle in Les Fleurs du Mal
spielt. Benjamin spricht von einer „Mimesis des Todes“20. Im Licht
des Todesschattens zeigt sich, welche existenzielle Bedeutung die
Phänomene der Moderne haben: Heimatlosigkeit und Einsamkeit,
Zerstörung der Geschichte, Großstädte, Menschenmassen, Armut.
Baudelaire ist der Dichter der Moderne. In seinem Kult des Neuen
verbirgt sich der Protest gegen eine Standardisierung, die das Neue
nur als Mehr vom Gleichen kennt, als Mehr vom alten Schrecken.
Denn so ist die Welt:
Un monde, monotone et petit, aujourd’hui,
Hier, demain, toujours, nous fait voir notre image:
Une oasis d’horreur dans un désert d’ennui.21
Gegen diese Langeweile helfen nicht die Neuheiten und Sensationen
der Reklamewelt, sondern nur das qualitativ Neue. Das aber findet
sich nur im Tod. Das letzte Gedicht des kleinen Zyklus vom Tod,
aus dem ich gerade zitiert habe, beginnt mit der Zeile: „O Mort,
vieux capitaine, il est temps, levons l’ancre!“ Und es endet mit dem
Vorsatz:
Plonger au fond du gouffre, Enfer ou Ciel, qu’importe?
Au fond de l’Inconnu pour trouver du nouveau!22
Kunst ist demnach eine unablässige Klage über das Elend des Lebens,
während sie zugleich das Ekelerregende in das Schöne verwandelt. Sie
zeugt damit ebenso von unserer Würde wie von unserer Heuchelei, und
sie zeigt uns eine Öffnung ins Andere, ins Unbekannte, das uns bewahrt
vor der Langeweile, die von der Monotonie der Standardisierung ausgelöst
wurde. Sie versöhnt uns mit dem Tod, der am Grunde des Unbekannten
20 Walter Benjamin, «Charles Baudelaire. Ein Lyriker im Zeitalter des Hochkapitalismus», in:
Benjamin, Gesammelte Schriften, Bd. I, 2, Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 1974, S. 587.
21 Œuvres complètes de Baudelaire, p. 126.
Eine kleine monotone Welt, heute,
Gestern, morgen, immer, zeigt uns unser Bild:
Eine Oase des Schreckens in einer Wüste der Langeweile.
22 Œuvres complètes de Baudelaire, p. 127.
Auf den Grund der Tiefe tauchen, Hölle oder Himmel, was es auch sei,
Auf den Grund des Unbekannten, um Neues zu finden!