Bibliotheca Arnamagnæana - 01.06.1956, Page 22
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Zweierlei scheint an dieser Sachlage sehuld zu sein.
Einmal handelt es sioh bei den betreffenden Jahrhunderten um
die Epoche eines materiellen und kulturellen Tiefstandes auf Is-
land. Die Literatur dieser Zeit ist weniger hedeutend als die aisl.
und die nisl. und, da verhaltnismassig wenig gedruckt oder neu her-
ausgegeben ist, grosstenteils schwer zuganglich.
Entscheidender ist aber wohl die Tatsache, dass sich das Isl. im
Lauf der Jahrhunderte weniger als die ubrigen germ., vor allem
weniger als die andern nord. Sprachen verandert hat. Zwar haben
die Laute mannigfache Entwicklungen durchgemacht, aber die
grammatische Struktur ist im wesentlichen erhalten geblieben, das
Isl. hat die Entwicklung seiner Schwestersprachen zum analyti-
schen Sprachbau nicht mitgemacht. So scheint es in der Tat auf
den ersten Blick wenig verlockend, sich durch das grosse und schwer
zugangliche Material muhsam durchzuarbeiten, um dann am Ende
vielleicht doch nicht zu wesentlichen Resultaten zu gelangen. Doch
nur auf den ersten Blick! Bei naherem Zusehen zeigt es sich, dass
auch das Isl. in Flexion, Wortschatz und Syntax Entwicklungen
und Wandlungen durchgemacht hat, denen nachzugehen sich die
Miihe lohnt. Und gerade hier erweist es sich als verhångnisvoller
Fehier, nur das Aisl. und das Nisl. einander gegenuberzustellen,
ohne die dazwischenliegenden Sprachstufen zu beriicksichtigen.
Nur wer auch einen Blick auf die zwischen dem Aisl. und dem
Nisl. liegenden Jahrhunderte wirft, wird ein richtiges Bild von den
Kraften, die im Laufe der Zeiten in der isl. Sprache wirksam waren,
gewinnen, denn er wird einerseits auf zahlreiche Neubildungen stos-
sen, die im schriftsprachlich normierten Nisl. keinen Eingang ge-
funden haben, und anderseits — vor allem in Wortschatz und
Syntax — fremden Einfliissen begegnen, die heute, zum Teil unter
dem Einfluss der puristischen Bewegung, wieder vollstandig aus der
Sprache verschwunden sind. Gerade der fremde Einfluss darf, wenn
er auch in erster Linie die geschriebene Sprache betraf und fur die
Entwicklung der heutigen Sprache nicht von entscheidender Be-
deutung war, nicht ubergangen werden. Er gehort als wesentlicher
Teil zum sprachlich-kulturellen Gesamtbild Islands in der Refor-
mationszeit und der beginnenden Neuzeit.
Erst in neuerer Zeit ist man nun daran gegangen, die Ubergangs-
epoche zwischen Aisl. und Nisl. genauer zu untersuchen. Auf dem