Mitteilungen der Islandfreunde - 01.01.1927, Side 9
ich nach erquickendem Bade mit frischer Kleidung an dem gastlichen Tische
meines I'reundes saB und unsere Erlebnisse auskramte. Die wenigen mir
noch zur Verfiigung stehenden Tage wurden ausgefiillt mit kleineren Wande-
rungen in die nacliste Umgebung der Stadt.
Am io. Juli habe ich auf der Botnia die Heimreise angetreten mit einem
kostbaren Schatz wertvoller Beobachtungen und Erfahrungen und mit
einem Herzen \-oll Dankbarkeit fiir alle islándischen Freunde, insbesondere
fiir meinen langjáhrigen Freund, Herrn Dr. med. Konráðsson, der mein
Unternehmen in selbstlosester Weise gefördert hat.
IY. WINTERWANDERUNG AUF ISLAND
n
Jenseits der Hellisheiði gibt mir der Kopf des weit in das Unterland vorgeschobenen
Ingolfsfjall die Richtung an. Doch ich werde vorlier einkehren miissen zur Nacht.
Links vom Wege glimmt ein Licht. Das mussen „Reykir" sein — der erste Hof dies-
seits der Heiði. Doch diesmal will ich den Rat von meinem guten Freunde Gísli be-
folgen, und nicht dorthingehen. Wer nicht genau Bescheid weiB dort um den Hof herum,
soll selbst bei Mondenschein verschwinden können irgendwo in dem an verschiedenen
Stellen stark dampfenden Ring von heiBen Quellen, der den Hof umgibt. So wie es
noch vor wenigen Jahren geschehen ist. Im ersten, gut aussehenden Hof, wo ich an-
klopfe, werde ich etwas erstaunt, aber freundlich empfangen. In der .Baðstofa', die
auch bei den neugebauten Höfen meist beibehalten worden ist und in der sich um diese
Zeit alles vom Hausherrn bis zu Hund und Katze zusammendrangt, sind die Madchen
am Tanzen. Es ist ja auch Festzeit — Weihnachten, Neujahr. Da hilft nichts, trotz
der Mudigkeit nach solch erstem Wandertag muB man sich „eine Drehung nehmen"
(taka sjer snúningu). AuBerdem aber ist es in dem groBen ungeheizten Raum nicht
gerade ubermaBig warm, und ein wenig Bewegung schon zu vertragen. Die Musik
dabei macht man nebenbei selber mit seinem eigenen Stimmwerk, da ausnahmsweise
kein Instrument im Hause ist. Nachher setzt man sich zusammen zum Kartenspiel
(o, was man hier nicht alles lernen muB!). In Ermangelung eines Tisches wird ein
groBes Kopfkissen auf die im Kreise versammelten Knie gelegt, und dann geht’s los.
Das Kartenspielen ist nun neben ein wenig Tanz und Gesang fast zur Hauptunterhaltung
an den langen Winterabenden geworden. Das Lesen1 der „sögur" und das .kveða',
diese alten Sitten, denen das Volk so unschátzbar viel verdankt, sinken immer mehr
in Vergessenheit. Ich bin auf Hunderten von Höfen gewesen und habe uberall danach
gefragt, und sehr selten nur mit etwas ironischem Stolz einen alten Bauern mir versichern
hören, daB bei ihm noch jeden Winter „gelesen" wurde. Vergessen und aus dem leben-
digen BewuBtsein des Volkes geschwunden sind die „sögur" gewiB noch nicht und wer-
den sie es wohl niemals ganz; es hat aber den Anschein, als ob die jtingste Generation
in den Stadten vor allem diese ihrer Eigenart wegen fast zeitlos rinnenden Quellen
islandischer Bildung und Tradition glaubt beiseitelegen zu durfen. •— Wáhrend das
junge Volk Karten spielt, sitzt auf der Bettkante mir gegenúber der Bauer und zer-
kleinert, ganz in diese vielversprecliende Beschaftigung versunken, mit einem Wiege-
mésser Tabak fur seine Schnupítabaksdose. Nur hin und wieder blickt er auf und
wirft eine an mich gerichtete Frage zu uns herúber, ob es in Deutschland auch Schafe
gebe, wie sie gehalten werden, wie die Heuernte bei uns vor sich gehe; ob Deutschland
niclit schon wieder obenauf sei und Hindenburg seine Sache nicht gut mache. Das sind
die gleichen Fragen, die man nach denen úber die qigenen Personalien auf jedem Hof
1 Gemeint ist das laute Vorlesen fúr Familie und Gesinde.
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