Mitteilungen der Islandfreunde - 01.01.1927, Blaðsíða 11
seit diesen schönen und bewegten Tagen dort zwischen den groCen Gletschern, sind
wir gute Freunde. Jetzt hatte er durchs Telephon erfahren, daB ich unterwegs sei —
er hatte mich immer schon eingeladen, einmal um diese Zeit zu kommen — und kam
mir nun eine lange Strecke entgegengeritten, um mich zu holen. Köstliches Gefuhl,
wieder einmal auf einen Pferderticken zu kommen 1 Die Nacht ist ganz klar geworden
und still. Wieder flutet Nordlicht und dort vor uns gleiflen, wie ich es so niemals fruher
gesehen, die Eisfelder der Gletscher im weiBrieselnden Mondlicht. Geheimnisvoll und
unendlich schön ist dieses náchtlich gedámpfte Leuchten des Firns. Wir machen einen
scharfen und langen Ritt durch diese verzauberte Naclit.
Auf Ægissíða bin ich wie zuhause. Der alte Bauer J ón dort ist ein echter alter Is-
lánder. Er hat einen guten Kopf mit einer breiten und hohen Stirn und trágt einen
groBen Vollbart. Er ist verschlossen und schwer zugánglich, dabei der sippenkundigste
Mann in der ganzen sýsla. Er hat manchen Stammbaum erforscht und aufgeschrieben
und schreibt noch immer, aber zu sehen bekommt man davon nichts. Jón hat eine
gute Biichersammlung, darunter sehr viele Annalen und eine sehr schöne, sehr wert-
volle alte Ausgabe vom „Vídalíns Húspostillur". Aber zu seinen Lebzeiten wird es
wohl umsonst sein, um diesen kleinen Schatz mit ihm zu schachern. Von Ægissíða lieBe
sich viel erzáhlen, von den seltsamen Höhlen z. B. im Tún, in denen einst irische Mönche
ihr Klosterleben geborgen haben sollen, die jetzt aber voll sind von Heu, das im Sommer
auf den weiten ebenen Fláchen dieses mit zu den fruchtbarsten Gegenden ganz Islands
záhlenden Unterlandes geerntet worden ist. Doch das merkwurdigste, was ich in diesen
Hochwintertagen erlebe auf diesem Hof, das ist ein Mensch. Ein alter Mann, ein Nach-
zugler aus der Zeit, wo es auch hier auf Island den stillschweigend anerkannten ,,Beruf"
des „Kunden" gab, dieser besitzlosen, meist aber mit irgendeinem besonderen Schicksal
und irgendwelchen besonderen Fáhigkeiten ausgestatteten Leute, die gelegentlich ar-
beitend, meist aber nur wie Bettler oder „fahrende Leute" von Hof zu Hof zogen. Ich
hatte oft von diesem „föru-fólk", wie es ja auch schon in den sögur vorkommt, wie es
jetzt aber wáhrend des letzten Menschenalters gleich vielen anderen Erscheinungen auf
Island ausgestorben zu sein scheint, erzahlen hören. Die alten Leute sprechen immer
gern und mit groBer Liebe von diesen Dingen. Nun treffe ich hier auf Ægissíða noch
cinen vondiesen „Förukarlar" — den altenRunólfur, der sich regelmáBig um die Weih-
nachtszeit auf Ægissíða einstellt. Er sitzt auf der Bettkante in der baðstofa, als wenn
er hier zuhause wáre. Er schaukelt bestándig hin und her, wobei seine spárlichen weiBen
Haare leise mitschwanken iiber diesem máchtigen, vom Alter ziemlich stark verwitterten
Schádel. Auf der linken Backe hat er eine huhnereigroBe Geschwulst, wodurch das
ganze Gesicht etwas aus dem Gleichgewicht gerát. Auf den triibe gewordenen, rot
unterlaufenen Augen hángt ihm eine alte, verbogene Brille. Manchmal walkt er ein paar
alte Socken oder anderes Wollzeug stundenlang zwischen seinen groBen, schweren Hán-
dcn. Diese áuBere, in lumpige Kleider dick eingehiillte Erscheinung aber ist nicht das
Merkwurdigste an dem alten, ruhelosen Mann. Das Merkwúrdigste liegt hinter seiner
máchtigen, breit ausladenden Stirn. Da liegt ein Schatz von Geschichten und allem an-
deren, was hier auf Island gesagt und geschrieben worden ist, wie ihn so nur noch einige
alte Leute hier als Erben einer vergangenen Zeit mit sich tragen. Der Alte gerát ins
Sprechen, er erzáhlt aus den 'Islendinga- und Noregskonunga-sögur; er spricht abgesetzt
und hart, wie es dieser Stil will; fast wörtlich erzáhlt er lange, lange Kapitel und man
merkt, daB er hierin unerschöpflich ist. Was mich am stárksten aber ergreift daran, das
sind seine angefúgten, wie aus einem nachklingenden Versunkensein aufsteigenden Be-
merkungen. Denn da spricht er von diesen Menschen und Begebenheiten, die vor einem
Jahrtausend geschehen, durch all die Jahrhunderte von Mund zu Mund und von Buch
zu Buch weitergetragen worden sind, er spricht von Skarpheðinn, von Gunnar und von
Grettir, von Eiríkur blóðöx und 'Olafur Tryggvason, als ob diese Menschen gestern
gestorben wáren, gestern ihre Taten vollbracht hátten, als ob er Auge in Auge mit ihnen
gelebt hátte. Er schimpft sie und lobt sie, spuckt vor ihnen aus und kost sie mit Zárt-
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