Mitteilungen der Islandfreunde - 01.01.1927, Síða 12
lichkeit, die das heutige Islándisch fiir so etwas hat, als ob sie gestern noch an seiner
Seite gewesen wáren. — Ich hatte oft etwas von diesem lebendig-innigen Verbunden-
sein, fiber das sich fur uns nur gar zu dicht oft der kiihle Schleier wissenschaftlich-histo-
rischer Betrachtung legt, im Gesprach mit Islándern empfunden, aber nie so wie bei
diesem Alten gespiirt, wie lebendig und welch innerer Befruchtung fahig dieser Strom
aus den Quellen einer alten Zeit die jetzt Lebenden noch erreichen kann. Wenn diese
Dinge sich auch auf Island naturgemáO zu ándern scheinen in diesem Zeitenwechsel, so
war das, was ich an diesem alten Islánder erlebte, doch im Grunde keineswegs der Einzel-
fall eines Sonderlings, sondern etwas durchaus Eigentumliches fur dieses Volk, das ein
derartiges lebendiges Verwobensein mit solchen geistigen Schatzen einer seltenen Gabe
und Liebe fiir seine Sprache und seine Geschichte verdankt. Es ist sehr beglöckend,
so etwas am eigenen Leibe zu erfahren, und aus den Menschen, ihren Worten und ihren
Bergen und Ebenen und Meeren ringsum das groBe Bild eines von Menschen erworbenen
Landes ganz sich runden und schliefien zu fiihlen.
Das gute Wetter hielt an. Noch immer kamen — zum ersten Male allerdings seit Men-
schengedenken um dieseZeit! — Automobile soweit nachOsten, um Seeleute fiir die
beginnende Fischzeit nach den Hafenstádten zu holen.
Am vorletzten Tage des Jahres konnte man auf Ægissíða und auf zwei anderen Höfen
in der Umgegend zu gleicher Zeit ein groBes Feuerzeichen durch die Morgendammerung
brennen sehen: das war die Bekanntmachung des groBen Balles am Abend! Da das
„ungmannafjelag" im „Holtahreppur“ noch kein eigenesHaus besitzt, solltediese,,skemt-
un“ (Unterhaltung mit Tanz, Gesang und Vortrag) auf Selalækur, dem gröBten Hof
hier, abgehalten werden. In hellem Mondschein zogen wir von Ægissíða am Abend uber
die ganz zugefrorene ,,Ytri Rangá" und dann úber die vom Sturme vernichtend „auf-
geblasenen" Sandfláchen der Rangávellir nach Selalækur. Ich war sehr gespannt,
wie so ein Winterball auf dem Lande aussehen wurde. Kaum hatten sich etwa 80 Leute
aus allen Richtungen zusammengefunden, als auch schon die Harmonika zu ziehen an-
fing, und zwar in dem groBen Keller unten. Der einzige Schmuck in diesem etwas unter-
irdischen Raum war neben den schmucken Mádchen selbst in ihren schönen Trachten
das Eisgeglitzer der úberfrorenen Wánde, das sich allerdings sehr bald in Wasser auflöste.
Denn getanzt wurde, was die Ziehharmonika nur hergeben wollte. Die Islánder tanzen
sehr gern und lassen sich dabei kaum eine neue Mode, die um die Welt getanzt wird, an
den FuBspitzen vorbeigehen. Ich war mitten drin und amúsierte mich köstlich. Irgend
etwas besonderes an nationalem Gepráge, Nationaltánze etwa, hatte ich meinen Er-
fahrungen nach nicht erwartet und wurde daher nicht enttáuscht. In einer Weise fúhlte
ich mich sogar gehoben wie selten: ich spúrte, daB inehr schöne, junge blaue Mádchen-
augen zu mir aufsahen in Ehrfurcht und Erwartung, als vielleicht in meinem ganzen
frúheren Leben zusammengenommen. Mein unschuldiger Name, um den fúr diese Leute
meist noch ein kaum zu zerstörender Schimmer schwebt von Márchen und Majestát,
trug wieder das Seine dazu bei, wiemir nachher meineBekannten mitstrahlendemLácheln
hinterbrachten. Davon könnte ich manch lustiges Stúcklein erzáhlen. — Nach ein
paar Stunden unermúdlichen Drehens sammelte sich alles in den beiden groBen Stuben
oben im Hause. Ich wurde in einer Ansprache des Lehrers begrúBt und willkommen
geheiBen, und dann hielt ich einen Vortrag úber die Beziehungen zwischen Island und
Deutschland, worum ich schon einige Tage vorher gebeten worden war. Hinterher
wurde gesungen, und es war eine Freude zu sehen, wie gerne gesungen und wie der Gesang
wieder gepflegt wird úberall. Zuweilen ging der gute Wille mit den Tönen durch, im
ganzen aber fúgten sicli die kráftigen Stimmen dieser Bauernsöhne — die Mádchen sangen
kaum etwas — erstaunlich gut ineinander. Dann wurde der unvermeidliche Kaffee
getrunken und dann wieder in den Keller hinunter und weiter getanzt. Nachher gab es
nocli einmal Reden und Gesang, ein Hoch auf Deutsch-Island und dann wurde nochmal
weiter gewalzt bis in den Morgen hinein. Das war die Ballnacht auf Selalækur, von der
man so manch anderes wie den Zauber von dunkelblau strahlenden Augen doch kaum