Mitteilungen der Islandfreunde - 01.07.1922, Síða 3
MITTEILUNGEN DER
ISLANDFREUNDE
ORGAN
DER VEREINIGUNG DER ISLANDFREUNDE
HERflUSG.: PROF. DR. W. HEYDENREICHIN EISENRCH U. DR. H. RUDOLPHI
IN LEIPZIG / VERLflG VON EUGEN DIEDERICHSIN JENfl
X.Jahrg. Heft 1/2 ~ Juli/Oktober 1922
Die MITTEILUNGEN DER ISLflNDFREUNDE ersdieinen als Halbjahrssdirift
und werden den Mitgliedern der Vereinigung kostenlosgeliefert und vom
Verlage zugesandt. Der Mitgliederbeitrag betrögt jahrlidi 20Mark
I. J. C. POESTION f
im 4. Mai 1922 ist unser hochverehrtes Ehrenmitglied, Sektionschef
f\ Dr. h. c. J. C. Poestion, in Wien gestorben. An seinem Grabe sprach
im Namen der „Vereinigung der Islandfreunde" Landgerichtsrat Dr. H.
von jaden. Uber Poestions Leben und Streben berichtet folgender Artikel
des Neuen Wiener Abendblatts:
Im 69. Lebensjahre ist gestern in Wien der vor kurzem in den Ruhestand getretene
Vorstand der Bibliothek im Ministerium des Innern, Sektionschef Doktor J. C. Poestion,
gestorben. Er war mehr als ein ausgezeichneter Fachmann und pflichteifriger Beamter,
er war Gelehrter europáischen Rufes. Seit seiner Jugend beschaftigte er sich mit den
nordischen Sprachen, und ehe er noch 30 Jahre war, begann er in einer langen Reihe
von Werken die Ergebnisse seiner Studien und Forschungen niederzulegen. Die gröfite
Verbreitung fanden seine Grammatiken des Dánischen, Norwegischen und Schwe.
dischen, die an allen deutschen Hochschulen im Gebrauch stehen und im Norden selbst
als mustergiiltig anerkannt wurden. Seine eigentliche Lebensarbeit aber galt Island,
seiner Sprache, Dichtung und Kultur, und nicht ein Skandinavier war es, sondern
der Österreicher Poestion, der versunkene Sprachschatze dieses Volkes hob und Europa
auch mit der neuislándischen Literatur erst bekannt machte. In Ausgaben einzelner
Werke und in Sammelbiichern islandischer Lyrik und Márchenpoesie warb er fiir das
ferne Volk und Land, in dem er so heimisch geworden, trotzdem er es nie gesehen
hatte. Erst als 53 jáhriger, nachdem sein Name im Norden lángst schon in hohen Ehren
stand, trat er seine erste und einzige Islandreise an, und zwar auf Einladung der is-
lándischen Regierung. In Reykjavík wurde ihm ein fiirstlicher Empfang zuteil,
in festlichen Veranstaltungen wurde er wie ein Vater des Landes gefeiert und sodann
mehrere Wochen hindurch durch das ganze Land geleitet, vom kleinsten islándischen
Bauern nicht als Unbekannter, sondern als vertrauter, geliebter Freund begriifit.
Die Treue und Dankbarkeit dieses Inselvolkes áuflerte sich in riihrender Weise, als
österreich zerfiel und Gelehrtenarbeit bei uns so tief in Achtung und Wert sank. Auch
die Reykjavíker Zeitungen hatten von dem groflen Elend in Wien erfahren und frugen,
wie es unserm lieben, guten Poestion wohl ergehe. Es blieb nicht bei den Fragen und
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