Mitteilungen der Islandfreunde - 01.07.1922, Síða 19
gangenen Veránderung keine Klarheit hatte, lieB man zunáchst den Toten liegen, wo
er lag (so findet er sich in den Kuchenabfállen, den Kjökkenmöddinger), dann mag wohl
(auBer anderen naheliegenden Grunden) die Furcht (die in jener Zeit der geistigen Ent-
wicklung sehr stark ist) zum Verlassen der Wohnung, wo der unheimliche, starre Tote
lag, gefiihrt haben. Spáter (mit der Megalithkultur der neolithischen Indogermanen)
setzt der Grabkult ein; das Grab ist die Wohnung des Verstorbenen, und diese wird aus-
gestattet wie die des Lebenden, damit er sein Leben fortsetzen kann wie bisher. Er be-
kommt Waffen, Rosse usw. mit (vor allem wohl, damit er nicht kommt und sich holt,
was er braucht; es werden aber auch Dinge beigegeben, die sein Wiederkommen hindern
sollen). Die Vorstellung eines Totenreiches besteht noch nicht; der Glaube an ein solches
(Totenberge) mag sich aus Grabhiigeln entwickelt haben. Die Reise ins Jenseits stellte
man sich aber ganz materiell, durchaus unseelisch vor (vgl. Helgis Reise aus dem Jen-
seits in der alteren Dichtung von Helgi dem Hundingstöter, vgl. Thule I [Edda], S. 150).
Das Eintretern der Verwesung kann zu einer dréifachen Vorstellung fuhren, entweder,
daB nach der Verwesung der Leichnam endgúltig tot ist (sog. zweiter Tod) oder daB
dann das Gerippe noch fortlebt (und sogar Blutstropfen abwirft, Isl. Volkssagen, úbers.
von M. Lehmann-Filhés, I, S. 103) oder es tritt eine Verbindung mit dem Seelenglauben
ein mit der Annahme, der Tote spúre die Verwesung selbst. Wie die Sitte, vor dem Be-
graben dem Toten noch Fragen vorzulegen, práanimistisch ist, so haben die Versuche,
die Leiche zu konservieren, den Zweck, den zweiten Tod aufzuhalten. Wie rein materia-
listisch die Ánschauung vom Weiterleben der Toten ist, zeigen zahllose Beispiele, bes.
der isl. Literatur (Kámpfer erscheinen wieder mit ihren Wunden, Ertrunkene mit trie-
fenden Gewándern).
Diese práanimistischen Vorstellungen fúhren aber noch zu weiteren Folgen. Nau-
mann geht weniger úber Neckel1, jedenfalls aber uber Mogk* hinaus, indem er auch die
Dámonen zum groBen Teil auf diese Grundlage zurúckfúhrt. Es gibt Dámonen, die
die Zúge des lebendigen Leichnams tragen. Das Gespenst erscheint schweigsam, eis-
kalt, totenblaB, das Antlitz klein und verrunzelt, mit groBen, háBlichen Augen; aufge-
schwollen und gedunsen; alle Dimensionen-, Gewichts- und Wesensverháltnisse er-
scheinen ins Obermenschliche gesteigert (Isl. Volkssagen, I, 110). Starrheit, Kálte und
Schwere steigern sich bis zur Verwandlung in Stein (Hrungnir) oder Eisen. Zu den
Leichendámonen gehören auch die Riesen, die leichenfressenden Dámonen, wie sie uns
Schoning (Dodsriger i nordisk hedentro, Kopenh. 1903, S. 9, bes. 12 ff.) verstehen ge-
lehrt hat. Es sind die verwunderlichen und grausen Eigenschaften der Leiche, die sich
in den Apperzeptionen der Dámonen widerspiegeln. Aber auch die freundlichen, jugend-
lichen und verfúhrerisch-schönen Dámonen sind zum Teil práanimistischen Ursprungs.
Der Dámon erscheint schwarz (Surtr), weiB (die weiBe Frau, bjartr Freyr), beides nach
den Farben der Toten. Eigenartig ist auch die auBerordentliche Stárke der Toten (man
erinnere sich an die Gespensterkámpfe in den Islándergeschichten, bes. in der Geschichte
vom starken Grettir, Thule V; auch das Auge Glúms ist hier zu beachten).
DaB die Primitiven danach streben, sich gegen die gefáhrlichen Toten, die Wieder-
kehrer, zu schútzen, ist begreiflich. Darum drúckt man dem Toten die Augen zu, um
sich vor seinem Blick zu bewahren; darum begrábt man dieToten in Hockerstellung,
schnúrt sie ein und zusammen, bricht ihnen Knochen und Rúckgrat mit schweren Stei-
nen, geht zu engen Kisten- und Muldengrábern uber, schúttet ungeheures Geröll von
Stein und Erde úber das Grab, begrábt sie an abgeschiedener, verborgener Stelle. Aber
1 Dieser bringt alle hier ausgefúhrten Anschauungen in Andeutungen (vgl. Walhall,
S. 119), úber die Dámonen, S. 38, vertieft auch einzelne Anschauungen noch (wie z. B.,
daB der Wiederkehrer als Vampyr es auf das Blut des Heimgesuchten abgesehen hat).
Wie weitgehend Neckel die von Naumann ausgefúhrten Anschauungen in diesem Buche
vorweggenommen hat, lehrt in kurzem Uberblick die Anzeige von A. Heusler, „Mit-
teilungen" I, 73 f. 1 Er nimmt als Grundlage allen Dámonenglaubens die „Macht”-
vorstellung (Spukgeschichten, S. 105).
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