Mitteilungen der Islandfreunde - 01.07.1922, Page 34

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Hier wohnt die Witwe Gunnhild mit ihrer Tochter Astrid, und diese wurde im Friih- jahr 18 Jahre alt. In dem namlichen Friihjahr kam ein junger Knecht auf den Hof; sie aber konnte sich nicht erinnern, daB jemals vorher ein junger Knecht auf den Hof gekommen wáre. Dieser hieB Helgi und war ein ausgezeichneter Arbeiter und von seltencn Kraften. Er war unaufhörlich bei der Arbeit vom ersten Morgengrauen bis spát in die Nacht, nie sah man ihn schlafen, und niemals war er miide, und wenn er einmal ausruhte, nahm er stets ein Buch zur Hand und las; aber immer war es das námliche Buch, das er las, das einzige, das er hatte, die Erzáhlung von Grettir dem Starken, der auf Drangey er- schlagen wurde. Helgi war ein groBer Mann mit breiten Schultern und hatte blaue Augen wie sie auch, mit groBen schwieligen Hánden, und wenn er sich am Abend wusch, sah Astrid unwill- kiirlich auf seine nackten Arme, die so besonders kráftig waren. Wenn Astrid mit ihm auf die Islándergeschichten zu sprechen kam oder auf die Ge- dichte Kristian Jonssons oder den „Eid" von Thorstein Erlingsson, fiihrte er nur einen kleinen Abschnitt aus dem Leben Grettirs mit wenigen Wortcn an, der oft ungeschickt gewáhlt war — nur um etwas zu sagen. Doch wurden Astrid und Helgi recht gut Freund miteinander. — Und dann fingen die Arbeiten des Friihlings an. 3. Eines Abends gingen sie durch das Tun nach Hause, nachdem sie den ganzen Tag gearbeitet hatten. WeiBe Nebelwolken hiillten den Gletscher ein; die Berge lagen alle klar vor Augen wie veilchenfarbig, auBer dem Ketil. Ab und zu unterbrach der Laut eines Vogels die Stille. Der Rauch aus dem Krater stieg gerade empor und verschwand. Und sonst regte sich nichts. ’.'i, ‘ Sie lieB sich am Rande des Baches nieder, um ihre Schuhe in Ordnung zu bringen; er setzte sich auch, sah empor zu den Bergen und genoB die Stimmung. „Als Grettir verbannt war, hielt er sich einen Winter lang in der Náhe dieser Berge auf," sagte er dann. Da sein Blick sich senkte, sah er die unklaren Spiegelbilder von Astrid und sich selbst im flieBenden Bach zu ihren FiiBen. Er und sie —? dann sah er empor und lachte. „Warum lachst du ?“ sagte sie ? Er könne das nicht sagen, meinte er, oft lacht ein Tor iiber seine Gedanken. „Und woriiber hast du gelacht ?“ Er sah sie an und entdeckte, daB sie klein und hiibsch war wie zartes Gras. Plötzlich wurde er ernst, sah empor zu dcn Bergen und sagte: „Mir kam der Gedanke, ob die Jungfrau Maria und Grettir der Starkc ein Ehepaar hátten abgeben können," und sah sie an, in der Erwartung, daB sie lachen sollte: aber er táuschte sich. . „Wenn sie sich geliebt hátten, dann . . .", weiter kam sie nicht. Abcr der Blitz, der aus ihren Augen leuchtete, traf cinen anderen in seinen Augen, und der Donner dazu fiel zwischen beiden nieder, und sie verstanden alles. Sie crrötcte und sah zu Boden, und er sah auch auf ihre Lider. Am Abend las sie die schwermiitigsten Gedichte Kristians und die liebegluhendsten Gedichte Thorsteins — und verstand allcs. Von da an ánderte sich das Verhalten der beiden zueinander durchaus, sie warcn schuchtern und in sich gekehrt, sprachen nie weniger miteinander als jetzt; aber um so öft.er trafen sich ihre Augen. 4. ImHochsommer kam einFremder nachHrauntun. Es war ein schlanker jungerMann, der anfangs „Sie" und „Ihr" zu allen im Gehöfte sagte, ein fremdartiger Gast, mit Stie- feln an den FuBen. „Darf ich fragen, woher der Herr kommt?" Bis von Reykjavík kam er. Und er hatte sich unterwegs Zeit gelassen, war dort Anfang Juni aufgcbroclien. Sein Ziel war hier oben bei den Bergen. „Darf ich fragen, was der Herr treibt?" sagte die alte Gunnhild. „Ich bin Maler." So, hm, das war sicher etwas Besonderes. Sic fragte aber nicht weiter danach. „Hast du Gepáck mit ?“ fragte Gunnhild. „ Ja, gewiB;" das waren seine Malergerátschaften und manches andere. — „Wárc es wohl möglich, mir hier Unterkunft zu gewahren, fur etwa 14 Tage ?" fragte der Fremde. „Und dir naturlich auch zu essen zu geben ?" sctztc Gunnhildhinzu. „ Ja, dcn Unterhaltmöcht 28

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