Mitteilungen der Islandfreunde - 01.04.1923, Page 2
Eine neue Erde entsteht, Friede und Eintracht herrscht unter den Eeuten;
der Ubergang zum Christentum, das im Jahre iooo auf Island eingefiihrt
wurde, wird wahrscheinlich damit bezeichnet. Die islándischen Sagas be-
schreiben das Familienwesen der Islánder und zugleich der alten Germanen,
Liebe und Treue, HaB und Neid; wie die jungen Helden auf Island auf-
wachsen, in der Jugend ins Ausland gehen, um Ruhm und Ehre zu holen,
dort viele Kámpfe bestehen und nach der Riickkunft eine Fiihrerstellung
einnehmen. Viele dieser Islánder, die ins Ausland reisten, waren dichterisch
begabt, und die sogenannten Skaldengedichte sind eben Preislieder auf aus-
lándische Könige, meistens norwegische und dánische, die von diesen is-
lándischen Skalden vorgetragen wurden. Die Skalden wurden hochgeschátzt
und nach jeder Drápa, die sie dem Könige vortrugen, wurden sie königlich
belohnt, sei es, daB sie ein ganzes Schiff mit voller Ausriistung erhielten,
sei es, daB sie so viel Gold empfingen, wie sie auf dem Kopfe tragen konnten,
wie von einem Skalden erzáhlt wird, der so vernúnftig war, daB er seine Haare
mit Teer aufband, daB er möglichst viel bekáme, sei es, daB der Skalde
nach einem solchen Vortrage zum Hofmanne des Königs emannt wurde;
jedenfalls paBte fur diese alten Zeiten das Schillersche Wort: Der König
und der Dichter — sie wohnen beide auf der Menschheit Höhen.
Es wáre daher sehr zu verwundem, wenn die islándische Literatur etwa
mit dem Jahre 1400 ausgestorben vmd die moderne Eiteratur nur ein Nach-
klang der alten Zeit wáre. Zwar kann nicht geleugnet werden, daB die
Eiteratur des Mittelalters bis zum Anfang des 19. Jahrhunderts jedenfalls
im Verháltnis zur alten Zeit sehr unbedeutend war; in diesem Zeitraum
wurde das Land mehrmals von vulkanischen Ausbrúchen, von Pest und
Seuchen heimgesucht, so daB in einem J ahre ein groBer Teil sámtlicher Be-
wohner ausstarb. Mit dem Anfang des 19. Jahrhunderts fángt aber eine
neue Periode an, und die moderne islándische Literatur datiert vom An-
fang der islándischen Romantik in den 2oer—3oer Jahren des 19. Jahr-
hunderts.
Jede Dichtung ist ein Spiegel des Volkslebens und der Volksseele, tmd
die Wúnsche und Tráume des einzelnen sowie des ganzen Volkes spiegeln
sich im Gedicht, im Drama, im Roman wider, wáhrend die literarische
Tradition, sei es die Form allein oder gar stoffliche Behandlung, nur be-
wahrt wird, wenn sie sich nicht im Widerstreit mit dem Empfinden des
Volkes befindet. Ebenso verhált es sich mit der literarischen Beeinflussung
durch das Ausland. StoBen die fremden Klánge nicht auf wesensverwandte
Gefúhle, dann werden sie nicht beachtet, so daB dieLiteratur eines Volkes
im Grunde genommen immer einheitlich und ein wahrer Spiegel der Volks-
seele ist.
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