Mitteilungen der Islandfreunde - 01.04.1923, Síða 3
Die islándische Dyrik ist unter den poetischen Gattungen die weitaus
bedeutendste und hat in der Form zum Teil alle Eigentiimlichkeiten der
Skaldengedichte und Eddalieder bewahrt, die Alliteration, die prunkvollen
VersxnaBe, wálirend der Inhalt ein anderer geworden ist. Auch auslándische
VersmaBe kommen háufig vor, wie Hexameter und Pentameter, Sonett,
Terzine und Stanze, die durch den Eieblingsdichter Jónas Hallgrimsson
Mitte des 15. Jahrhunderts eingefiihrt wurden. Ein modernes islándisches
Gedicht hat gewöhnlich jetzt dasselbe VersmaB wie etwa ein deutsches
oder dánisches, nur mit dem Unterschied, daB die Alliteration beibehalten
rvird und daB jeder islándische Dichter bei feierlicher Gelegenheit imstande
ist, die alten, kunstvollen VersmaBe, wie etwa das dróttkvætt, runhent
u. dgl. erklingen zu lassen. Von besonderen lyrischen Gattungen sind die
Totenklagenlieder zu erwáhnen, die auch die Vorzeit kannte; sie werden
zu Hunderten und Tausenden gedichtet, und kaurn ein bedeutender Islánder
stirbt, ohne ,daB ihm ein poetischer Nachruf gewidmet wird. Diese Toten-
klagenlieder sind natiirlich traditionell geworden, und nur Meister, wie J ónas
Hallgrimsson oder Matthías Jochumsson, haben etwas AuBerordentliches in
dieser Gattung geleistet. Die islándische Ballade wurde insbesondere durch
Grímur Thomsen (| 1896) gepflegt; er schildert mitVorliebe den einsamen
Ritt durch die islándische Einöde, wie die Dunkelheit sich allmáhlich auf
die Berge und Gletscher niedersenkt, die Elfenkönigin naht; das Dustere
Und das Grauenhafte weiB er aufzuregen und erinnert in dieser Beziehung
an Goethes „Erlkönig" und andere solche Balladen. Insbesondere aber
sind die Djuiker des 19. Jahrhunderts Naturdichter und Freiheitsdichter
gewesen. Sie besingen Vaterland, Freiheit und Schönheit, und die islándische
Natur spielt eine groBe Rolle in ihren Gedichten. Einige Eyriker, wie H.
Hafstein, lieben den Kampf und den Sturm: Ich liebe dich, Sturm, der du iiber
die Erde sausest — und er hat einen groBen Reisezyklus verfaBt, der das
islándische Reiseleben im unbewohnteu Innern des Dandes verherrlicht,
Wobei er wiinscht, daB es ordentlich schlechtes Wetter mit Platzregen gebe,
darnit er eine Probe seiner Manneskraft ablegen könne. Er kann daher als
der Dichter des Sturmes und des Streites genannt werden, wáhrend ein
anderer, Guðmundur Guðmundsson, als der Dichter der Windstille zu
benennen ist. Er liebt es, insbesondere am stillen J uliabend am Meere zu
sitzen und Frieden in seine Seele einzusingen. Wenn er die Wellen am Sande
sich brechen hört, tönt seine Seele vom Gesang des Meeres, und darum
Hennt er seine Rieder und Biedersammlungen Friede auf Erden, Audante
religioso usw. Alleswird bei ihm zur Musik, sogar der Seufzer einer trauernden
Mutter. Noch andere Dichter besingen den Jammer und dasElend des islán-
'bschen Volkes in der Periode des Niederganges, wie z. B. Kristján Jónsson,
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