Mitteilungen der Islandfreunde - 01.04.1923, Blaðsíða 9
keine Gefangennahme durch die Obrigkeit geschieht, der Dialog wird natiir-
lich, alles dreht sich jetzt um einen seelischen Konflikt, das Elieproblem
wie in Kambans ,,Wir Mörder“ oder E. H. Karans „Syndir annara" (,,Die
Siinden der Anderen"). Wir ersehen hieraus, daB das islándische Drama
einen áhnlichen Entwicklungsgang zeigt wie das Drama im Auslande.
Auch die Novelle und die Romandichtung wird mit Eifer auf Island ge-
pflegt; es gibt islándische Schriftsteller, die gegen 20 Romane geschrieben
haben, wie etwa der vor wenigen Jahren gestorbene Jón Trausti. Auch
der in Kopenhagen lebende Schriftsteller Gunnar Gunnarsson, der seine
Werke zugleich auf islándisch und dánisch erscheinen láBt, ist sehr pro-
duktiv. Seine Romane sind mit groBem Geschick geschrieben und wer-
den in verschiedene Sprachen Europas iibersetzt. Hervorzuheben sind ins-
besondere „Gestur eineygði" („Der eináugige Gast") aus dem groBen
Zyklus der Borgfamilie, „Drengurinn" („Der Knabe"), der die seelische
Entwicklung eines islándischen Naturkindes unter dem máchtigen Einflusse
der ihn umgebenden Natur mit liebevoller Kunst schildert, „Fóstbræður"
(„Die Eidesbruder"), die Geschichte der ersten Besiedler Islands Ingólfr
Arnarson und Hjórleifr Hróðmarsson, und „Ströndin" („Des Eebens
Strand"), die Ereignisse an einem Hafenort Islands mit einer Detailkunst
schildert, die an Hauptmanns „Atlantis" erinnert. E. H. Kvaran ist ein
sehr geschátzter Romandichter und Novellist; seine erste Novellensamm-
lung „Vestan hafs og austan" war in der islándischen Novellenkunst
epochemachend. Zu den allerjúngsten gehört Guðmundur G. Hagalín
(„Blindsker", „Blinde Scheren"), der mit einer vor kurzem erschienenen
Novelle in der Zeitschrift „Iðunn" („Að leiðarlokum") vieles verspricht.
Viele dieser Romane und Novellen schildern das Eeben der Bauern auf den
einsamen Höfen im Innern Islands, wáhrend einige Romane, die in Reyk-
javík spielen, wie etwa Einar Hjörleifsons „Ofurefli" (Gbermacht) oder
Gestur Pálssons Novellen kaum der Wahrheit entsprechen. Diese Schrift-
steller standen eine Zeitlang unter dem Einflusse von Georg Brandes und
suchten grundsátzlich nur die Schattenseiten des Eebens auf. Anderer Art
dagegen ist die Romanserie von Jón Trausti „Sögur frá Skaptáreldi" („Ge-
schichten vom Skaptár-Feuer"), die das furchtbare Nationalunglúck
schildert, das úber Island 1783 durch einen vulkanischen Ausbruch in
Ostisland hereinbrach. Ein solches Elend und ein solcher Janimer, der hier
geschildert wird, entspricht sicherlich den Tatsachen.
Auf dem Eande ernáhren sich die Islánder hauptsáchlich von Viehzuclit
und Schafzucht; in den Sommermonaten Juli—September wird eifrig ge-
arbeitet, wáhrend die langen Winterabende gute Gelegenheit bieten, sich
mit Eiteratur zu bescháftigen. Jeden Abend versammeln sich die Eeute
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