Mitteilungen der Islandfreunde - 01.09.1934, Side 6

Mitteilungen der Islandfreunde - 01.09.1934, Side 6
Die Sprache ist der Zugang zu dem Islánder der alten Zeit wie der Gegenwart. Sie ist das in einem viel mnfassenderen und tieferen Sinne als bei allen anderen Völkern. Der islándiscke Gelehrte Sigurdur Nordal sagt einmal: „Es hat kein anderes Volk, im Verháltnis genommen, dem Sprachtum so viel von seinen Kráf- ten hingegeben, von seiner Liebe und seiner Innerlichkeit, es hat auch kein an- deres Volk so viel Trost daraus geschöpft, so viel Tapferkeit und Stárke.“ Island hat in dem Auf- und Untergang der Kulturen, in dem Úberwiegen oder Zuriick- treten der einen oder anderen Kulturform der Sprache und Diclitung die Stellung in der Mitte errungen und erhalten, die sie iiber den alltáglichen Zweck des Ver- stándigungsmittels erhebt zur urspriinglichsten geistigen Kraft und zur höchsten kiinstlerischen Werkmöglichkeit des Menschen. Eine dauernde gestaltende Sprachúbung durchdringt das Leben der Islánder bis in die Bezirke alltáglichster Arbeit, sie entziindet und verzehrt in ewigem Wechselspiel das gröfite MaB von seelischen und geistigen Kráften. Die ganze islándische Geistesgeschichte láBt sich sehen und darstellen von den Höhen- oder Tiefenlagen der Sprachzeugung aus, in ihr spiegelt sich in jeder Zeit das tiefste und das einfachste werktátige Leben des Volkes in seinem ganzen Umfang. Am einen Ende steht das groBe Ge- dicht als Tráger der schwersten seelischen Erschiitterung, am anderen der kernig gedrungene Vierzeiler, der die Giite der Sense oder die Art der Witterung oder die Schwáche eines verbrauchten Pferdes lobt und geiBelt. Das Wort ist auf Island eine durch und durch politische Angelegenheit, in unserem neuen, weiten und tiefen Sinne dieses Begriffes. Die alten Gemeinschaften: die Eestlichkeiten auf den Höfen, das abendliche Zusammensein im Winter in der groBen Bauern- stube, das harte Zusammenleben auf den offenen Booten und in den Eischer- hutten der winterlichen Fangplátze; die Zeltgenossenschaften der Mánner beim tagelangen Abtrieb des Viehs von den Hochweiden; die neuen Bildungs- und Gesellschaftsformen: die Veranstaltungen der Vereine und Schulen, die Volks- feste und die Kundgebungen der politischen Parteien; die nationalen Feiern und die Gottesdienste — das alles ist auf Island in einem ganz anderen MaBe als uberall sonst getragen und durchsetzt von der Wirkung der zum Kunstwerk oder doch zu irgendeiner erhöhten Eorm gesteigerten Sprache. Hier ist in der Mitte des kulturellen Lebens stehen geblieben, was bei den anderen germanischen Völ- kern durch die Entwicklung anderer Kulturformen und Kunstgebiete vielfach an den Band geschoben oder auch ganz erdrúckt wurde: die Sprache und Dich- tung als das tiefstgrúndige und fruchtbarste Erdreich fúr die seelische und gei- stige Auseinandersetzung des Germanen mit der Welt und fiir seinen ewig quel- lenden Gestaltungsdrang. So ist Island noch heute wie vor tausend Jahren Tráger der Sendung, unter den germanischen Völkern das Wunder der Sprache und die Flamme der Dichtung am reinsten zu bewahren. Wir Deutsche empfinden das 70

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