Milli mála - 01.01.2013, Blaðsíða 111
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Narrativ, teleologisch organisiert, in der Regel zielt er auf die
Heimkehr oder die Ankunft des Reisenden hin. Er kann aber auch
ein anderes Ende einer Reise zum Gegenstand haben, wie z. B. den
Tod des Reisenden, der die antizipierte Heimkehr oder die Ankunft
verhindert. Der Reisebericht bringt damit eine Bewegung, die im
Raum stattgefunden hat, in eine zeitliche Ordnung.
In Reiseberichten verbirgt sich häufig eine weitere Form, die als
Landes- oder Ortsbeschreibung gefasst werden kann. Bei dieser
Beschreibung (es ist eben kein Bericht) tritt der Ablauf der Reise
hinter die Beschreibung eines Ortes, eines Landstriches, einer Land-
schaft, Architektur usw. zurück. Landesbeschreibungen sind nicht
an Reiseberichte gebunden, sondern können unabhängig von ihnen
auftreten. Bei einer derartigen Beschreibung muss die Wahrnehmung
eines Ortes, die gleichzeitig, quasi stereoskopisch, stattgefunden
hat, in der sprachlichen Darstellung ebenfalls in eine Ordnung des
zeitlichen Nacheinander gebracht werden. Um einen Ort beschrei-
ben zu können, muss also dessen Prinzip, d. h. die Gleichzeitigkeit,
zerstört und durch ein anderes ersetzt werden. Die „simultane Ko-
präsenz des Differenten“, wie Karl Schlögel es nennt, muss der
Darstellung halber aufgelöst werden (Schlögel 2007: 49).
Welche Form ein Autor oder eine Autorin für einen Reisebericht
wählt, kann sehr unterschiedlich sein. Die chronologische Dar-
stellung kann durch beschreibende Einschübe, Exkurse, Kommen-
tare oder sogar extensive Lektüreberichte unterbrochen sein, wie es
z. B. in den Kapiteln „Deutsche Literatur“ und „Deutsche Schulen“
im Reisebuch von Tómas Sæmundsson der Fall ist. Teile des Reise-
berichtes oder der Bericht im Ganzen sind auch als Tagebuch oder
Brief vorstellbar. Daneben sind Auszüge aus anderen Berichten
durchaus üblich sowie Zitate und Verweise auf Texte jeglicher Art,
in jüngerer Zeit kommt Bildmaterial hinzu. Die jeweilige Aus-
gestaltung folgt, wie die Wahl der Themen, zum großen Teil dem
gültigen Kanon der Zeit und ist keineswegs so zufällig, wie es auf
den ersten Blick scheinen mag.
Wie sehr das nachträgliche Verfassen eines Reiseberichtes nicht
nur auf eigenen Notizen und Erinnerungen beruhte, sondern zu
großen Teilen auf der Lektüre und Verarbeitung anderer Literatur,
MARION LERNER