Mitteilungen der Islandfreunde - 01.04.1917, Qupperneq 18

Mitteilungen der Islandfreunde - 01.04.1917, Qupperneq 18
Unbefangenheit abgeht. Daher haben es spátere Geschlechter meist Ieichter, die Dích- tungen in ihre Zeit richtig einzureihen und ein zutreffendes Urteil iiber ihren Wert zu gewinnen. AIs das Schauspiel: „Das Schiff sinkt" kurz nach Neujahr 1903 zum ersten- mal uber die Brctter ging, Iauteten die Urteile darúber sehr verschieden. ,,'lsafold" Iobte es, „Reykjavík" (Jón 'OIafsson) ebenfalls, „Þjóðólíur" fand nicht viel Gutes daran (der Aufbau sei nicht straff genug; tadelte den Mangel an eigenartig islándischem Charakter; die Sprache, die nicht reines gutes Islándisch sei). Auch Jón 'OIafsson hatte die Sprache des Schauspiels getadelt. Die Deutschen Kúchler und Poestion, die beide die Geschichte des islándischen Theaterwesens mit der den Deutschen eigenen Grúndlichkeit geschrie- ben haben, sprechen sich beide úber das Drama aus. Kiichler 1 sagt: Vor allcn Dingen vermissen wir durchaus den an erster Stelle notwendigen Kausalzusammenhang, inso- fern namentlich der 2. und 3. Aufzug zuviel Ballast enthalten.... Auch schon im ersten Aufzug findet sich manches Úberflússige. Poestion2 findet vor allem den „Charakter der Hauptperson, Frau Sigríð, verschwommen", tadelt die „Háufung von Unwahr- scheinlichkeiten in bezug auf Zeit, Ort und Umstánde der Handlungen", er fragt: „SoIIte der Hauptzweck dieses Dramas nicht darin zu suchen sein, die verderblichen Folgen der Trunksucht vor Augen zu stellen, da ja der Verfasser Good-Templar ist?" Auf diese beiden Kritiken kann man sich nicht stútzen, da sich Poestion, wie sich zeigt, im wesentlichsten fast wörtlich an die Besprechung im „Þjóðólfur" ange- schlossen hat. SchlieBlich hat P. Herrmann3 tiber dieses Schauspiel geschrieben und kommt zu dem Ergebnis, ihm schcine es (1907) das bedeutendstc islándische Drama zu sein. Bei der Beurteilung cines Schauspiels muB man vielerlei in Bctracht zichen, nicht nur den Aufbau, den Zusammenhang von Ursache und Wirkung, die Charaktere, son- dern auch die Anregungen und Erlebnisse, die die Gedanken und Anschauungen des Dichters beeinfluBt haben. Zuvörderst muB man auf den inneren Zusammenhang der ^ Ereignisse sehen und untcrsuchen, ob die Fáden gut untereinander verbunden sind. Das haben die Deutschen, die oben genannt sind, getan (und der Herausgeber des Þjóðólfur 1903), aber auf verschiedenc Weise, und das ist einer der Grunde, auf denen der Widerspruch in ihren Urteilen beruht. I rau Sigríður war 20 Jahre mit Johnsen, dem Faktor eines dánischen Handelshauses, 1 verheiratet. Sie hatte in ihrer Jugend einen jungen Kaufmann, Hjálmar Pálsson, geliebt, aber aus irgendwelchen Grúnden hatte sich Hjálmar von ilir abgewcndet; des- halb heiratete sie Johnsen. Der Ehe entstammt eine wackere Tochter, Brynhild, dic Ehe blieb aber doch unglucklich, weil Sigríður ihre alte Liebe nicht vergessen konnte und Johnscn ein Sáufer ist, der ihr ganzes Eigentum vergeudet hat. Im Gescliáft hat er sich unzuverlássig gezeigt und steht bei Beginn des Stúcks vor dem Bankrott. Der Buchhalter Einar setzt ihm diesen Zustand auseinander, aber Johnsen will davon nichts hören, sondern hat eben vor, auf dio Jagd zu gehen, will acht Tage von zuhause wegbleiben und zwölf Flaschen Whisky und Ivognak mitnehmen. Um 7 Uhr abends soll im Klub cin BaU stattfinden; Mutter und Tochter schickt Johnsen dorthin; er Iiebt seine Tochter („danke Gott, Brynhild, daB du nicht bist wie ich!"). Der Buchhalter Einar, der Sigríð Halbbruder, klárt diese úber die Lage auf.Diese Kunde grámt Sigríð sehr, zumal weil sie wciB, daB Brynhild den Kandidaten Kristján herzlich liebt; diescr beabsichtigt nach Kopenhagen zu fahrcn, um dort seine medizinischen Studien abzu- schlieBen. Kristján und Brynhild teilen der Mutter ihre Verlobung mit, und diese sieht sich gezwungen, ihnen von der Sachlage Kenntnis zu geben; Kristján verspricht ihr 1 C. Ktichler, Geschichte der isl. Dichtung der Neuzeit, Leipzig 1902, II, S. 62. (Das S. 59 ff. „Frau Sigrid" genannte Schauspiel ist unter dem Titel: „Das Schiff sinkt" veröffentlicht worden.) 2 J. C. Poestion, Zur Geschichte des isl. Dramas und Theater- wesens, Wien 1903, S. Ó2ff. 3 P. Herrmann, Island in Vergangenheit und Gegenwart, I. Leipzig 1907, S. 354 ff.; ders., Island, das Land und das Volk. Leipzig 1914. S. 106. 60

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