Mitteilungen der Islandfreunde - 01.04.1917, Qupperneq 20
Guðríð Zu stellen. Johnsen hat von dem Ungliick gehört und kommt nach Hausc.
Einar sagt ihm, mit dem Schiíf aus England sei ein Schreiben gekommen, des Inhalts,
er musse seine Stellung verlassen, wenn nicht innerhalb vierzehn Tagen alle Schulden
bezahlt seien. Die Lage ist bedenklich, Johnsen will sich erschieflen, Einar hált ihn
davon zuruck. Hjálmar sieht, daB unter solchen Umstánden wenig Aussicht ist, daG
Sigriður ihre Familie verláfit. „Wenn ich komme“, sagt sie zu ihm, „finden Sie
meinen Sattel und Zúgel auí der grúnen Bank im Eingang, wo sie am Abend Iagen.
Dann können Sie das Pferd satteln Iassen." Zwei Máchte streiten in ihrer Brust, die
Liebe zu Hjálmar und das Pflichtgeftihl gegen ihre Familie. Sie entschlieBt sich, mit
ihrer Tochter zu sprechen, aber es fállt ihr schwer, dieser von ihrcr Líebe zu crzáhlen
und bittet sie, ihr ein Lied vorzusingen. Vielleicht, daB sie dann den Mut findet, ihr
zu sagen, wie alles gekommen ist. Brynhild ist sehr niedergeschlagen iníolge des
Verlustes ihres Bráutigams, geht aber doch darauf ein und fragt die Mutter, ob sie
von Jesus in Genezareth, der den Sturm stillt, singen soll. Die Mutter lehnt es ab
(„der den Sturm stillt ?“ sagt sie geistesabwesend nach; darauf Brynhild: Gott stillt
alle Sttirme. Sigríður: Ja, ja, manche nicht. bevor das Schiff gesunken ist und die
Mannschaft ertrunken). Nun singt Brynhild: „Ktihn war er wie ein Löwe, an Stárke
gleich dem Tod" usw. Jetzt bringt es Sigríður uber sich, ihrer Tochter zu sagen,
daB sie sie verlassen und Hjálmar folgen will. Brynhild aber erklárt, sie werde nicht
zu Frau Guðrfð gehen, sondern zuhause bleiben und den Kampf aufnehmen, den ihre
Mutter aufgebe. Das Tor dröhnt beim Hufschlag der Pferde Hjálmars; jetzt siegt das
Pflichtgefúhl gegen Tochter und Familie: „Ich habe niemandem versprochen zu kom-
men. — Ich verlasse das sinkende Schiff nicht." Einar hat Brynhild eine Stellung
als Buchhalterin verschafft und Johnsen soll mit dem Dampfschiíf nach Amerika fahren.
Dort will er ein neues Leben beginnen, denn an der Stelle, wo er hingeht, ist meilen-
weit kein Whisky zu bekommen. Zum Schlusse sieht Johnsen ein, wie schlecht er
seine Frau behandelt hat; sofort nach seiner Ankunft in Amerika will er die Scheidung
in die Wege Ieiten; er hofft, sie könnten sich in Freundschaft trennen. Sigríður bricht
eine Rose ab und steckt sie ihm ins Knopfloch, Brynhild aber umarmt ihn: „Wir
wollen fest zusammenhalten!“ Frau Sigríður: „Und gemeinsam den kommenden Tag
begrúBen." Die Morgensonne scheint auf Mutter und Tochter und die Schiffsglocke
ertönt zum dritten Male.
II
uGere und innere Erlebnisse der Dichter verílechten sich in dcn meisten ihrer Schöp-
i V fungen. Wie national ihre Dichtung ist und woher ihre Dichtergabe rúhrt, kann
man deutlich sehen, wcnn das Auge des Beobachters hier scharf zu trennen vermag.
Besonders wichtig ist die Erscheinung, daB Vorstellungen und Gedanken, die auf den
Dichter vor vielen Jahren einwirkten, oft bei der Arbeit aus der Tiefe seines Inneren
emporsteigen. Der Dichter meint dann selbst, das Gold seiner Arbeit sei 24karátig,
vollwertig, doch ist das nie der Fall. Verstándiger Menschenbrauch ist es, das Metall
zu mischen, weil das Gold dann Iánger hált. Bei den meisten Dichtern kann man nach-
weisen, daB ihre Vorstellungen aus verschiedenen Zeiten und Orten stammen. Bilder
aus den Kinderjahren des Dichters, Spiele aus der Jugendzeit, der Gedankcnschatz
anderer Dichter, alles vereinigt sich zu cinem Ganzen, wenn er die Hand ans Werk legt
und das Metall schmiedet, und den gröBten EinfluB iibt aus, was den Dichter auf sei-
nem Lebensweg am tiefsten beruhrt hat.
AIs Jóhann Sigurjónsson seinen „Bauer auf Hraun" schrieb und die Erde mit einem
lebenden Wesen verglich, das mit offenem Munde atme, dachte man wohl allgemein,
die Dichtergabe Jóhanns habe ein neues Bild geprágt, obgleich nachweisbar viele an-
dere Dichter, islándische und nicht islándische, das námliche Bild in áhnlicher Weise
verwendet habcn. In den Schauspielen Schillers kann man nachweisen, daB zahlreiche
Gedanken ihren Ursprung irgendwo anders haben, in der Bibel, bei Shakespeare, bei
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