Mitteilungen der Islandfreunde - 01.04.1925, Page 11
reich schwarmen. Aber die Ungebildeten und die junge Generation wissen nichts von
ihrer nordischen Herkunft. Bei meinen Vortriigen tiber Island hatte ich als Zuhörer
viele Schulknaben und -mádchen mit ihren Eltern und Bekannten, und ich war erstaunt,
daB von ihnen allen nicht ein einziger wuBte, daB das Wort Normanne einen Mann aus
demNorden bedeutet. Als ich ihnen sagte, daB wir eigentlich Landsleute wáren, da auch
ich von den Normannen abstammte, genau so wie ihre Vorváter, da sahen sie mich
mit groBen verwunderten Augen an; sie konnten es gar nicht glauben, daB sie aus
dem Norden stammen sollten.
Etwa 4 km von San Carlo entfernt ist eine höchst interessante geschichtliche Státte,
der kleine uralte Ort Dives an der Miindung des Flusses gleichen Namens. Hier sammelte
Wilhelm der Eroberer seine normannische Kriegsflotte, ehe er auszog, um England zu
erobern. In Dives sah ich noch uralte Erinnerungen an Wilhelm des Eroberers Zeit.
Die alte Kirche steht noch da, vom Wetter hart mitgenommen und mit des Altertums
ehrwurdigen Runzeln. Auf einem der alten gemalten Fenster stehen noch Namen von
normannischen Háuptlingen; „Les seigneurs normands", die an dem kúhnen Erobe-
rungszuge nach England teilnahmen. Auch sah ich ein groBes, uraltes Haus, in dem
der Eroberer selbst gewohnt haben soll. t)ber dem Eingang steht in alten, ausgehauenen
Buchstaben: „Hostellery de Guillaume le Conquérant". Im Innern fand ich alles,
die Steine, die Pfeiler, und die dicken Eichenbalken kohlschwarz vor Alter. Ja wirk-
lich, hier ist alles interessant, namentlich fúr einen Mann aus dem hohen Norden.
V. MUTTERLIEBE
Von Jónas Hallgrimsson.
(Deutsche Fassung von Gustav Wolf-Weifa.)
Es fegt tiber Húgel und eisiges Land,
Dröhnt in den Bergen und rast wie ein Brand,
Schneewolken jagen wie Rosse zur Schlacht;
Der Weg úbers Eis in kohlschwarzer Nacht
Entschwindet den irrenden Augen.
Kennst Du die weinende Mutter im Schnee ? —
Suchend den Pfad in unendlichem Weh
Birgt fest sie im Arm ihr Kind vor dem Frost;
Zum Kampfe gegen den schneidenden Ost
Wollen die Kráfte nicht taugen.
Liebling, du schlummerst und kennst nicht die Not,
Siehst und verstehst nicht, wie schrecklich sie droht,
Greift nach dem bltihenden Leben dir schon; —
Ewiger Helfer, du göttlicher Sohn,
Hilf du mein Kind mir erretten!
Schlafe, mein Liebling, schlaf ruhig und sacht!
Auch ich will verschlafen die grausige Nacht.
Schlaf nur, ich pflege und htite dich gut!
Sicher und warm vor des Unwetters Wut
Wird deine Mutter dich betten.
Es fegt tiber Htigel und eisigen Pfad
Dichter und dichter die flockige Saat,
Aus schwarzem Gewölke in stockdunkler Nacht
Brullen und heulen mit furchtbarer Macht
Die wilden, die sausenden Winde. —
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