Mitteilungen der Islandfreunde - 01.09.1934, Síða 2
seinen durch Tat und Schicksal gezeichneten einzelnen gesetzt hat: die Sagas,
die mit hoher und sicherer Kunst gestalteten Geschichten islándischer Volks-
helden und islándischer Familien.
Wer gewohnt ist, nach altem, siidhch geprágtem Bildungsstil, den Baedeker in
der Hand, tausendjáhrige Vergangenheit in Ruinen und Denkmálern aus Stein,
in Gedenktafeln und Museumsstucken vorgesetzt zu bekommen, der greift auf
Island ins Leere. Hier zeugt keine Ruine, kein Tempelpfeiler, kein Bildwerk imd
keine Waffensammlung von der groBen Zeit eines Volkes, die eine der eigensten
und schöpferischsten Zeiten in ganz Germanien war. Die alten Herrenhallen sind
vermorscht und zerfallen, die letzten Planken der seetúchtigsten Schiffe der Alten
Welt sind verhrannt und versandet, die goldgebánderten Helme und silbergezier-
ten Schwerter sind verrostet oder im Sumpf versunken — unscheinbare Erd-
wálle nur verraten noch den GrundriB alter Höfe und Heiligtúmer und ein ein-
ziger Húgel nur wölbt sich noch heute als das sicher bekannte Grabmal eines der
gröBten Islánder des 10. Jahrhunderts: des Kámpen und Skalden Egill Skalla-
grímsson, von dem eine ganze Saga: „Die Geschichte vom Skalden Egil“ han-
delt. In den sudlichen Lándern hat der dauerhafte Stein als Stoff des bildenden
Kunstlers die Erinnerung an alte Kunst und Kultur immer wach gehalten und
immer wach gerufen. Im germanischen Norden, wo das lebendig warme Holz der
seelengemáBe Stoff der Baumeister und Bildwerker war, ist mit seiner Vergáng-
lichkeit auch das Wissen der Nachfahren um eine ganz hohe Kunst des Bauens
und Schnitzens in der Vorzeit fast ein Jahrtausend lang erloschen gewesen. Erst
ein Fund wie der des Fúrstenschiffes von Oseberg in Norwegen hat allen vor
Augen gefúhrt, was man bis dahin kaum zu vermuten gewagt: eine Holzlomst
in Schiffsbau und Schnitzwerk aus der Zeit um 800 n. Chr., wie sie reifer kaum
gedacht werden kann.
Ist Island so wie kaum ein anderes Kulturland bar aller groBen sichtbaren Er-
innerungen an die Hochzeit seiner Geschichte, die Blútezeit des islándischen Frei-
staates vom 10. bis ins 13. Jahrhundert, so besitzt doch kein anderes Land und
kein anderes Volk ein so lebendiges, unmittelbares und alle verpflichtendes Denk-
mal und Erbe seiner groBen Vergangenheit wie das islándische Volk: Die Islánder
besitzen noch heute die Sprache, in der ihre Vorfahren vor tausend Jahren ge-
sprochen und gedichtet und gesungen haben. In dieser Tatsache enthiillt sich
nicht die einzige, aber die bedeutendste und eigentúmlichste Kulturtat der
Islánder. Sie haben ihre alte Sprache so bewahrt, daB sie sich mit einem Vor-
fahren des 10. Jahrhunderts, der aus seinem Grabe aufsttinde, ohne Múhe wúr-
den unterhalten können. Das kann kein anderes Volk — welche Múhe macht es
unseren Studenten, mit einem Stúck Althochdeutsch oder Altsáchsisch einiger-
maBen fertig zu werden. In der islándischen Familie horchen und verstehen die
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