Mitteilungen der Islandfreunde - 01.09.1934, Síða 3
Kleinen wie die Alten, die Unstudierten wie die Studierten, wenn vorgelesen wird
aus den alten Geschichten, die vor tausend Jahren geschehen und erzáhlt und
aufgezeichnet worden sind. Das heutige Islándisch ist die álteste lebende Kul-
tursprache Europas ■— und wenn es auf Island fiir den Eremden, von der GröBe
der alten Zeit nichts zu sehen gibt, so gibt es davon alles — zu hören. Denn die
unverminderte Gemeinsamkeit der Sprache ist die lebendigste und innigste Be-
ziehung, die ein Volk mit seiner Vergangenheit verbinden kann. Das álteste und
gröBte Stiick islándischer Vergangenheit aber hat sich am reinsten und groB-
artigsten verkörpert in einem unvergleichlich reichen Schatz an Sprachwerk, das
bis heute erhalten ist. Das sind eben die Helden- und Götterlieder, die Merk- und
Weisheitsspriiche der Edda, das sind die tausend Strophen der dem Namen nach
bekannten islándischen Skalden des 10. und 11. Jahrhunderts, das sind die drei
Dutzend Islándergeschichten, die Sagas, das sind die Geschichtswerke des Islán-
derbuches, des Besiedelungsbuches, des groBen Königsbuches, das von den nor-
wegischen Königen handelt; dazu kommt noch allerhand Beiwerk. So stehen
hier, wenn auf einem islándischen Bauernhof ein Stiick Saga vorgelesen wird, die
alten Vorfahren tatsáchlich wieder aus ihren Grábern auf: Der Islánder, der sie
heute sprechen láBt, láBt sie in ihrer Sprache sprechen, er beschwört also die
Wirklichkeit in einem MaBe herauf, wie kein steinernes Denkmal und keine Úber-
setzung vergangener Sprache und kein Wiedererlernen verstorbener Worte es je-
mals fertig bringt. In dieser Unantastbarkeit ihres urspriinghchen und eigenwil-
ligen Daseins liegt das Geheimnis der Geist tragenden Sprache, und in diesem
Geheimnis liegt jenes Andere beschlossen, das man heute nur auf Island noch
erleben kann: die áuBerste Möglichkeit der Verflechtung von Vergangenheit und
Gegenwart, die direkte Uberwindung eines tausend Jahre záhlenden Raumes
durch die Macht des unbesiegten Wortes — des unbesiegten Geistes. Ich saB ein-
mal auf einem islándischen Bauernhof — ich war schon zwei Jahre im Lande
gewesen und hatte die Sprache gelernt — einem alten Bauern gegeniiber. Man
merkte ihm an, daB in seinem máchtigen Schádel mehr vorging, als er davon
preisgab. Dann riickte er heraus und sprach einige lange Stiicke aus einer Saga,
auswendig, fast wörtlich, wie sie im Buche stand. Und dann sprach er, mehr zu
sich selbst als zu seinem Gaste gewandt, iiber eine bestimmte Person, die darin
vorkam. Und da er mit ihr nicht einverstanden war, ergrimmte er, fluchte —
und ging hinaus. Als wenn er zum náchsten Hofe reiten und die Sache in Ord-
nung bringen miiBte. Wer das erlebt hat, wer mit diesen Bauern und durch sie
mit den alten Siedlern sprechen kann, und wer dann die alten Geschichten liest,
dem werden plötzlich die vielen Bauernhöfe, auf denen diese Geschichten mit
ihrer sehr genauen und anschaulichen Darstellung spielen, dem werden die Fliisse
und Furten, die Berge und Táler, die noch die Namen ihrer ersten Benennung
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