Mitteilungen der Islandfreunde - 01.09.1934, Qupperneq 43
sieren.de und runisierende Abwandlung des lateinischen Alphabets. Der Inhalt aber beruht
nach Wirth in seinem Kem auf schriftlichen Úberlieferungen aus der Bronzezeit.
Er meint also im Ernst, ums Jahr 2000 vor unserer Zeitrechnung hatten die Germanen es
unbedingt verworfen, wenn jemand einen andem seiner Freiheit beraubte, und wáren iiber-
zeugt gewesen, da alle Freigeborenen auf gleiohe Weise geboren seien, miiBten sie auch gleiche
Rechte haben; jedem, der ein Weib genommen habe, stehe Anspruch zu auf ein Haus, das,
wofern keins zur Verfiigung sei, sogar neu fiir ihn gebaut werden miisse; kein König diirfe
Waffen fuhren, da seine Weisheit seine Waffe und die Liebe seiner Kámpen sein Schild sein
musse; das Erbrecht könne nur bedingte Gultigkeit haben, so daB etwa des Königs jungster
Sohn das jenem vom Volke verheheno Gut zwar erben diirfe, und ebenso nach ihm sein
jiingster Sohn, dann aber músse man es wieder einziehen; Diebstahl sei kein durch Hángung
zu strafendes Vergehen (wie man bisher auf Grund der Schriftquellen annahm), sondem der
Dieb músse das Gestohlene dreifach ersetzen und erst im Wiederholungsfall nach den Zinn-
landen (d. i. Britannien) verbannt werden; Rache und Fehde aber seien unehrenhaft (S. 34).
Die Fiirsten seien stolz und kriegerisch, unddarum sei keine Tugend in ihren Herzen (S. 100).
Diese Blútenlese aus dem ethisch-sozialen Inhalt des Buches gentigt, zu zeigen, daB es sich
von dieser Seite her nicht anders darstellt als von der linguistischen. Beide Anachronismen
sind einander wert.
Der Herausgeber jedoch záumt bedenkenlos das Pferd beim Schwanze auf; Er versteigt
sich mehrfach zu Sátzen wie, die Mitteilungen der Ura-Linda-Chronik seien niqht nur viel
reichhaltiger, sondern auch weit altertúmlicher als die nordische — von ihm „spátnor-
disch“ genannte — UberHeferung in der Edda und den Sagas. Hátte er auch nur einen Teil
der Islándergeschichten gelesen und eine Auswahl aus den eddischen Liedern und aus Snorris
Skaldenlehrbuch sich in ungestörter MuBe zu Gemtite gefúhrt, so múBten solche Behauptun-
gen ihm selher lácherUch vorkommen.
Die Chronik, die ihm als eine Urkunde uralten Lehens erscheint, ist in Wahrheit ein Mittel-
ding zwischen frisomaner GeschichtskUtterung und dichterischer Phantasie. Als Beispiel fúr
ersteres diene die Zurúckfúhrung des Namens Piraeus fúr den Hafen von Athen auf eine frie-
sische Auswanderung unter Gert Pire (!). Im gleichen Zusammenhang begegnet eine poetisch
gehobene SteUe: „Fúrder hob Irtha ihren Leib empor, so hoch, daB aU das Wasser zur
StraBe1 hinausUef und daB aUe Wadden und Scháren gleich einem Burgwall vor ihnen auf-
stiegen.“ Ein noch besseres Beispiel scheint folgendes, auf S. 92 begegnende: „Gleich dem
wilden Rosse, das seine Máhne schúttelt, nachdem es seinen Reiter grasfálUg gemacht hat,
so schúttelte Irtha ihre Wálder und Berge. Flússe ergossen sich úber die Felder. Die See
kochte. Die Berge spien Feuer nach den Wolken, und was sie gespien hatten, schmetterten
die Wolken wieder auf die Erde. Im Anfang des Arnemonats neigte sich die Erde nordwarts;
sie sank immer tiefer und tiefer. In dem Welfenmonat (=Wintermonat) lagen die niederen
Marken von Fryas Land in der See versunken. Die Wálder . . . wurden emporgehoben von
der Winde Spiel. Das Jahr darauf kam Frost in dem Herdemonat (= Hartung) und bedeckte
Alt-Fryas Land gánzUch mit einem Eisbrett. Im SeUamonat (= Mai) kam Sturmwind aus
dem Norden her und fúhrte Berge von Eis und Steinen mit sich. Als die Springflut kam, hob
Irtha sich solber hoch. Das Eis schmolz dahin. Ebbe kam, und die Wálder . . . trieben zur
See. In dem Winne- oder Mhmemonat (!) fuhr ein jeder, der es wagte, wieder heim . . .“
Auch wer nieht úberzeugt ist, daB die hier geschUderte Katastrophe im Jahre 305 vor Christi
Geburt eingetreten ist und daB es im damaUgen Friesland Vulkane gegeben hat, kann sich
an der SchUderung selbst vieUeicht erfrouen. Schade, daB nicht auch der letzte Herausgeher
sich hieran hat genúgen lassen. Dann wáre auch der politische Schaden vermieden worden.
Eine mir zugegangene Auslassung eines ostdeutschen Práhistorikers besagt: „Hatte uns jahr-
zehntelange Arbeit deutscher und anderer Vorgeschichtler bisher gelehrt, daB sich der
1 Die WasserstraBe, „die zu diesen Zeiten in das Rote Meer auslief11 (S. 66).
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