Mitteilungen der Islandfreunde - 01.09.1934, Side 44
germanisehe Siedlungsraum in den letzten beiden Jahrtausenden v. Chr. in mehrfachen Vor-
stöfien dauemd ausgedehnt hat, so erfahrt der erstaunte Leser der Chronik, dafi im Gegenteil
in dieser Zeit die Germanen im Westen durch die Kelten, im Osten durch die Finnen immer
weiter zuriickgedrangt wurden, so dafi im fiinften vorchristhchen Jahrhundert ihre Siid-
grenze die Schelde, ihre Ostgrenze die Weser gewesen sei; — alles Land siidlich der Schelde
sei keltisch gewesen, und ahes Land östhch der Weser hátte unter stárkstem finnischem Bin-
flufi gestanden! Der Leser fragt erstaunt, wo hierfiir eine Bestátigung durch die Altertums-
funde zu finden sei. Aber es kommt noch árger! Jeder deutsche Volksgenosse weifi, wie sehr
deutschfeindhche Pohtiker, Wissenschaftler und Presseleute bemiiht sind, ein fremdes An-
recht auf Ostdeutschland nachzuweisen, weifi, welohe Arbeit es uns kostet, diese Anspriiche
zu entkráften. Vorurteilsfreien europáischen Wissenschaftlem sind slawische Altertumer aus
der Zeit vor dem 7. Jahrhundert nach Christus nicht bekannt. Die Ura-Linda-Chronik weifi
es besser: Auf S. 99 erfahren wir, dafi bereits vor dem Jahre 305 vor Christus (!) slawische
Völker im heutigen Ostdeutschland und Westpolen safien und ihre Háfen (!) von friesischen
Kaufleuten besucht wurden. Mit andern Worten: Herr Wirth scheut sich trotz
seiner laut betonten völkischen Einstellung nicht, fiir die Echtheit eines
Machwerks einzutreten, das mit seinem Inhalt den „Anspriichen" unserer
Nachbarn auf deutschen Volksboden neue „Beweise" liefern könnte. Jedem
deutschen Volksgenossen wird schon nach diesen wenigen Beispielen klar sein, dafi es mit
der Bestátigung der Chronik durch Bodenfunde nicht weit her sein kann.“
Wirth hat sich durch diese Fálschung táuschen lassen, weil sie seiner eigenen Tendenz ent-
gegenkam, dem Bemuhen oder Bedurfnis, die nordeuropáische Urzeit höher zu stellen, als
8eine hollándischen Zeitgenossen anerkennen wollten. Es wáre verwunderhch, dafi eine Pro-
phetennatur wie er, ein unkritischer Kopf, der alles unbesehen annimmt, was seinem Leit-
gedanken entgegenkommt, mag es aus fremdem oder dem eigenen Gebiet stammen, diesen
Leitgedanken selber fassen konnte, wáren nicht schon vor ihm áhnhche Bestrebungen ans
Licht getreten, so die eines Olaf Rudbeck, die ihm mittelbar sehr wohl bekannt geworden
sein können. Jedenfalls handelt es sich im Grunde um eine durchaus emst zu nehmende
Hypothese, denn ihr Gegenteil, der Satz „ex oriente lux“, ist bei weitem nicht bewiesen und
kann heute keinen Anspruch auf gláubige Hinnahme mehr erheben, seitdem wir wissen, dafi
der álteste bislang bekannte Pflug in einem ostfriesischen Moor gefunden ist und der álteste
Wagen, von dem wir Kunde haben, ein im Museum zu Florenz befindhches Stuek aus Ágyp-
ten, durch die dabei verwendeten Holzarten und den die Speichen seiner Ráder mit Naben
und Radkranz verbindenden Bast als nordeuropáische Arbeit erwiesen wird. Was den Pflug
angeht, so ist das Alter dieses hochmerkwúrdigen Fundes als das 4. Jahrtausend vor unserer
Zeitrechnung bestimmt worden, und zwar mittels der Pollenanalyse. Man sehe darúber
Jacob-Friesens „Einfúhrung in Niedersachsens Urgeschichte“ (Hildesheim u. Leipzig 1931),
S. 54—-58: Derselbe Typ des „Sohlenpfluges“ ist auf dem Eimer von Certosa (wo ein heim-
kehrender Pflúger erscheint) und auf einer griechischen Vase dargesteht, Gebhden, die ohne
Frage weit júnger sind als der Eichenast von Walle. Dies sind besonders wichtige Zeugen da-
fúr oder Hinweise darauf, dafi ganz wesentliehe Kulturleistungen im nordischen Kulturgebiet
ihren Ursprung haben. Weitere Befunde gleicher Art sind von der fortschreitenden Arbeit
der Práhistoriker zu erhoffen. Auch die immer mehr sich Bahn brechende Einsicht, dafi die
Urheimat der Indogermanen im Norden zu suchen ist, weist in dieselbe Richtung, denn die
gemeinsame Kultur der Urzeit kann nach Ausweis der Sprachwissenschaft nicht niedrig ge-
dacht werden; sie schUefit den Ackerbau und mihtárische Organisationen ein, zu denen
Streitwagen und wahrscheinlich aueh Reiterei gehörten.
Wenn ich frtiher bis zu einom gewissen Grade fúr Wirth eingetreten bin, so war es, weU
die aUgemeine Tendenz seines Strebens mir zusagte: sein Widerspruch gegen das Evolutions-
dogma und gegen die Unterschátzung der Kulturhöhe unserer ungetauften Vorfahren. Mir
schien es richtig, einem in solchem Sinne wirkenden Sammler und SchriftsteUer, mochte er
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