Le Nord : revue internationale des Pays de Nord - 01.06.1940, Page 75
»DER EUROPAISCHE BUND«
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iiberdies ein echter Sohn des vorhergehenden humanistischen Jahr-
hunderts ist, wird heute unumgánglich in vielen ihrer Angaben
und Betrachtungen veraltet und naiv erscheinen. Die idealistischen
Anschauungen und die abstrakte Ausdrucksweise jener Zeit wer-
den oftmals das Kopfschíitteln des heutigen Lesers hervorrufen.
Es ist indes eine Frage, ob das Urteil iiber die politischen Betrach-
tungen Schmidt-Phiseldeks mit einer so billigen Kritik erschöpft
ist.
Er beginnt seinen »Europáischen Bund« mit einem Ausblick
auf die Weltgeschichte und áussert sich dahin, dass die Entwicke-
lung, dank dem Einfluss des Christentums, langsam dahin geht,
zwischen den Völkern einen internationalen Rechtszustand zu
schaffen, wie er schon lángst auf nationalem Gebiete, innerhalb
der einzelnen Völker, zustandegebracht ist. Selbst die euro-
páischen Kongresse, die im Laufe der letzten Jahre abgehalten
wurden, sind als eine Annáherung an dieses Ziel aufzufassen. Des-
wegen kann es auch nicht mehr als »ein leeres Hirngespinst« an-
gesehen werden, nach einer Föderalvereinigung der europáischen
Völkerschaften zu streben, »durch welche der Rechtszustand,
den die Vernunft fordert, im áusseren Leben dargestellt, und
mit der vereinigten Kraft der Gesammtheit gegen die Verletzung
abseiten einzelner Glieder zwanglich aufrecht erhalten wiirde«.
Wenn man die Nomadenhorden der Vorzeit aufgefordert hátte,
sich zu einem Volke zusammenzuschliessen und die Entscheidung
m Zwistigkeiten dem geschriebenen Gesetze zu iiberlassen, anstatt
jeden Streit Mann gegen Mann mit Schwert und Keule auszu-
kámpfen, wiirde ein solcher Vorschlag als nicht weniger phan-
tastisch und widernatiirlich befunden worden sein und im besten
Falle wohl nur ein gutmiitiges Lácheln hervorgerufen haben.
Der Verfasser weist darauf hin, dass man praktische Beispiele
fiir die Bildung eines solchen Bundesstaates, im kleineren Stil in
Deutschland, im grösseren in Nordamerika findet. Aber in Wirk-
lichkeit machen sich nach Schmidt-Phiseldeks Auffassung in ganz
Europa eine Reihe von Faktoren geltend, die positiv in dieser
Richtung wirken. In der diesbeziiglichen Beweisfiihrung des Ver-
fassers spiirt man wohl am deutlichsten in seinem Werke den Zahn
der Zeit. Denn wenn er unter diesen Faktoren solche anfiihrt wie
die infolge der Verkehrsentwickelung (Chausséen, Kanále u. a.)
lebhaftere und schnellere Verbindung zwischen den Lándern; die
Verbreitung der Ideen durch das gedruckte Wort und die Kennt-
ms der französischen Sprache; die allgemeine Anerkennung der