Le Nord : revue internationale des Pays de Nord - 01.06.1940, Blaðsíða 180
NORDISCHE KUNST
Von Axel L. Romdahl.
Prorektor der Hochschule zu Göteborg.
DIE nordischen Völker, die, klein und, wenn auch nicht
gerade arm, so doch mit geringeren Hilfsquellen im Ver-
háltnis zu den grossen europáischen Kulturnationen im
Suden und Westen ausgestattet, in einem entfernten Winkel der
Welt ansássig sind, haben wohl im grossen und ganzen keine
bemerkenswerten Beitráge zur Geschichte der Kunst geleistet, die
es mit denen aufnehmen könnten, die sie in der Welt der Wissen-
schaften aufzuweisen haben durch Mánner wie Tycho Brahe
und 0rsted, Linné und Berzelius, Abel und Nansen. Thorwaldsen
ist wohl der einzige nordische Kiinstler von universeller Bedeu-
tung, und er verlebte bezeichnenderweise sein Leben nicht in
seinem Heimatlande, sondern unter dem sonnigen Himmel Roms.
Was aber der Norden — bisweilen, oder vielleicht sogar meistens,
im Anschluss an fremde Vorbilder, wenn auch in Abwandlungen
von eigenartiger Prágung — an Kunst geschaffen hat, war doch
reich genug und von so viel Kraft erfiillt, dass es unserem Glau-
ben und Willen, unseren Tráumen und unserer Lebensfreude
Gestalt verleihen konnte.
Jetzt, wo wir im reifen Alter auf unsere friiheren inneren
Zwistigkeiten zuriickblicken wie auf die rauhen Kraftproben der
Knabenzeit, betrachten wir unsere nordische Kulturwelt als ein
gemeinsames Familienerbe. Glauben nicht z. B. die Dánen, an
Bellmann, die Schweden und Norweger, an H. C. Andersen in
ganz anderer Weise und in anderem Grade teilzuhaben, als es
Menschen ausserhalb des nordischen Geschwisterkreises möglich
wáre? Und erfreuen wir uns nicht alle gleichermassen an der
Kunst, die seit Jahrtausenden in unseren Lándern bliiht, und die
wir trotz ihrer Verschiedenheiten als gemeinsam empfinden, als
ob sie uns allen etwas zu sagen hátte.
Dieses Gefiihl wird nicht nur durch die geographische Nach-
barschaft hervorgerufen. Es ist die Stammverwandtschaft unserer
Völker und ihre gleiche Einstellung gegeniiber den wesentlichen
Lebensfragen, die jedes von ihnen die Kunst, Dichtung und Musik
des anderen besser und tiefer erfassen und lieben lassen, als wir
das, was uns ferner liegt, erfassen und lieben, und vor allem auch
besser und tiefer, als andere diese Welt erfassen und lieben kön-
nen.