Mitteilungen der Islandfreunde - 01.12.1931, Blaðsíða 16

Mitteilungen der Islandfreunde - 01.12.1931, Blaðsíða 16
ausgesprochen könstlerischen Zugen, im Bewuötsein des Volkes lebte. Diese im Volks- bewuötsein lebende Geschichte galt es ftir Kamban einzufangen und zu gestalten. Kamban hat noch ein tíbriges getan und ist íiberraschenderweise dadurch erst zur eigentiichen Problemstellung seines Werkes gekommen. Wie die „fróðir menn“ der Sagazeit ist er als Geschichtskundler an seine Aufgabe herangegangen. Seine Quellen- forschungen ergaben ihm folgendes Bild1: Um Ragnheiður, die Tochter des Bischofs Brynjólfur von Skálholt und ihren Lehrer, Daði Halldórsson, entsteht das Geriicht eines Liebesverháltnisses zwischen den beiden, das ihr Beichtvater, Sigurður Torfason, ihrem Vater hinterbringt. Am n. Mai 1661 hat Ragnheiður durch öffentlichen Eid ihre Jungfrauenschaft zu beschwören. Am 15. Februar 1662 gebiert sie einen Sohn und Daði ist sein Vater. Xn der öffentlichen Buöe und Begnadigung der Ragnheiður am 20. April 1662 ist die Rede von ihrem Keuschheitsbruch, nicht von einem Eides- bruch. Die Frage, hat Ragnheiður am 11. Mai einen Meineid geschworen oder nicht, birgt den Schliissel zum Verstándnisse ihres Charakters. Die traditionelle Auffassung auf Island bejaht die Frage. Kamban verneint sie: Raguheiður hat ihren Lehrer Daði schon vorher geliebt, sie ist an jenem 11. Mai von ihm unberiihrt, fiihlt sich ihm aber zugehörig. Der Eid ist dem Wortlaute nach kein Meineid, wohl aber fiir sie dem In- halte nach. Die Schmach der Eidesablegung stachelt in ihr den Trotz, „und bevor der Tag zu Ende, hat Ragnheiður einen andern Eid geschworen: Diese Schmach zu rilchen .... Von der Liige hat sie sich durch den Eid gereinigt, nun schwört sie sich selbst Freiheit." (Skírnir S. 64.) Nun gibt sie sich Daði hin und verlebt mit ihm, von keinem Klatsch mehr verfolgt, einen kurzen Sommer des Gliicks. Diese seelische Erklárung von Ragnheiðurs Tat ist im letzten Winter in Reykjavík viel beredet und oft verworfen worden. Die Frage, ob sie auf die geschichtliche Ragn- heiður zutrifft, ist miiBig, wenn man den Roman Kambans nur als Kunstwerk betrachtet, sie ist es nicht, wenn man in ihm, wie Kamban selbst, auch die Vermitt- lung einer sachlich richtigen Darstellung des Geschehenen sehen will. Iíamban selbst spúrte geschichtliche Schwierigkeiten; S. 139 der dánischen Ausgabe sagt Ragnheiður zu ihrem Vater: „Wenn Ihr das (den Eid) von mir fordert, werde ich mich fúr mein ganzes Leben offen gebrandmarkt ftihlen" — und Kamban kommentiert: „Diese Worte entsprechen zwar nicht der öffentlichen Meinung des 17. Jahrhunderts, wohl aber entsprechen sie dem menschlichen Urinstinkt1." Eben an diesem Punkte gehen die Wege auseinander: Hat Ragnheiður falsch geschworen, so war sie ein törichtes, junges Ding, das sich der herkömmlichen Form unterwarf und mit leichtsinnigem Optimismus damals noch glaubte, der Herrgott werde ein Auge zudrúcken und alles werde gut ablaufen. Hat sie richtig geschworen, so ist ihr spáteres Handeln nur als ein Auflehnen gegen die vom Herkommen geheiligte Schmach, die ihr angetan ward, zu verstehen; dadurch aber wird sie zur Persönlichkeit und erst als solche möglicher und wúrdiger Gegenstand dichterischer Gestaltung. Die zentrale Szene des Romans wird natúrlicherweise der náchtliche Besuch Ragn- heiðurs bei Daði, da sie sich ihm zum ersten Male hingibt. Kamban ist ein Meister der Darstellung des Neben-einander-her-lebens, das hat er schon im SchluBakt von „Wir Mörder" und im „Gesandten vom Jupiter" bewiesen. Daði versteht nicht, was Ragnheiður zu ihm treibt, seine konventionellen Rticksichten der Pflicht gegen den Bischof werden allein vom Trieb besiegt, nicht vom Verstándnis der klaren und reinen Forderung der Ragnheiður. Ragnheiður fúllt ihre Liebe ganz allein mit ihrer Persönlichkeit aus, ihr Daði hat mit dem wirklichen Daði auch nicht das Geringste zu tun; ihre Liebe ist in Zweisamkeit erftillte Einsamkeit, in allen ihren Stufen, der entschlossenen Tat der ersten Nacht, dem Sommer gemeinsamen Glúcks und der letzten Verklárung durcli das BewuBtsein der Mutterschaft. 1 Vgl. Kamban, Daði Halldórsson og Ragnheiður Brynjólfs dóttir, Skírnir 1929, S. 36. 42

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