Mitteilungen der Islandfreunde - 01.07.1925, Blaðsíða 10
Die Berufswahl fiir junge Islánder vor 50 Jahren bot nicht viele Aus-
sichten; vor allem gab es zwei Möglichkeiten, Bauer zu werden oder in Dienst
bei einem Bauem zu gehen. Einen eigentlichen Seemannsstand gab es nicht.
Die Deute arbeiteten auf dem Lande im Sommer und trieben im Winter
Fischfang auf offenen Booten. Auch einen eigentlichen Kaufmannsstand
gab es nicht, nur einige Gescháftsinhaber, die zumeist den Winter in Kopen-
hagen zubrachten, und in deren Dienst Angestellte, die scheel angesehen
wurden. Waren sie auch, wenigstens teilweise, in Island geboren und auf-
gewachsen, sah man sie doch nicht als echte Islánder an. Ich erinnere mich
aus meiner Jugendzeit, wie man von einem Pfarrer sprach, einem wackeren,
trefflichen Manne, der das Amt aufgegeben hatte und Gescháftsfiihrer fur
eine dánische Firma geworden war. Die Leute sahen das als eine groBe
Schande fúr den Mann an. So ziemlich alle Beamte des Landes, Pfarrer, Sys-
selmánner, Árzte, trieben neben ihren Berufsgescháften Landwirtschaft,
auBer denen in Reykjavík — und das waren so wenige, daB kaum ein junger
Mann damit rechnen konnte, in diesen Kreis zu kommen.
Die Landarbeiter waren gesetzmáBig unterdrúckt, waren unselbstándige
Leute; sie muBten sich fúr ein ganzes Jahr verpflichten, oder je nach Ver-
mögen eine hohe Abstandssumme bezahlen. Das taten die wenigsten, teils
weil sie dazu die Mittel nicht hatten, teils weil dieses Recht anzuwenden
groBe Umstánde machte, teils deshalb, weil Leute mit so zúgellosem Frei-
heitsbedúrfnís sich wohl úberhaupt nicht danach drángten, etwas zu tim.
Aller Untemehmungsgeist erstickte in dem Druck des Geldtnangels. Es
gab kein Geld unter den Leuten, abgesehen von den geringen Betrágen, die
die Bauem, die einen UberschuB fúr ihre Produkte beim Kaufmann hatten,
bekommen konnten. Und der Kaufmann war geneigt, ihnen alle Waren
zu liefern, nur kein Geld. Eine Sparkasse wurde 1872 in Reykjavík ge-
grúndet. Aber es war kein Geld darin und sie war die einzige im Land.
Dazu sei noch erwáhnt, daB es keine Kústenschiffahrt gab, daB man
die weiten Wege zwischen den einzelnen Distrikten zu Pferde zurúcklegen
muBte, daB es keinen Telegraphen und kein Telephon im Lande gab, daB
die Postverbindung mit anderen Lándem höchst unvollkommen war; so
kann man sagen, daB es úberhaupt kein Gemeinschaftsleben im ganzen
Lande gab.
So ármlich und eingeengt war das Leben auf Island, als das Althing vor
50 Jahren die gesetzgebende Gewalt erhielt. Und dazu noch eins. Ich werde
nie vergessen, welcher Hunger nach Búchern in meiner Jugend auf dem
Lande war. Das Lesebedúrfnis scheint immer eine Eigenart der Islánder
gewesen zu sein. Und diese Eigenart ist um so bemerkenswerter, als es tat-
sáchlich ein Wunder ist, daB die Islánder vor 50 J ahren úberhaupt lesen lern-
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