Mitteilungen der Islandfreunde - 01.12.1934, Qupperneq 15
Der letzte Becher
von SigurdurNordal
Schwere Schneemassen hatte der Adventstag auf die Erde geladen. Schneesturm
auf Schneesturm. In der W ohnstube war es selbst um die Mittagszeit halb dunkel;
es hellte nur ein wenig auf, wenn die Leute, die das Vieh versorgten, am Hofe vor-
beigingen und den Schnee ein wenig von den Fenstern wegstreiften. Allerdings
taten sie dies so recht nur vor den Fenstern der Mádchen, an meinem Fenster kratz-
ten sie nur ein wenig zum Schein im Schnee herum. 0, die guten Burschen, sie
wuBten, daB da nicht viel zu holen war. Was ich da machte, war gerade keine
besondere Feinarbeit, und ziemlich gleichgiiltig war es mir, ob ich es gut oder
schlecht machte. Der Ehrenmann Thorir, mein Neffe und Bauer hier, hatte mich
hingesetzt, um RoBhaar zu spinnen, auf einer alten Spindel, auf der schon der
Kuhstali-Björn bei meinem seligen Vater gesponnen hatte, als ich noch klein war.
Wer hátte damals geglaubt, daB ich an so etwas noch heran miiBte.
Mir war wahrhaftig nichts an diesem RoBhaar gelegen, und ich war nahe daran,
Thorir daran zu erinnern, daB ich trotz allem doch candidatus philosophiae wáre.
Aber was sollte das wohl genutzt haben ? Als ob Thorir irgendwie Sinn dafiir ge-
habt hátte, was das ist, ein candidatus philosophiae! Dazu fiihlt er sich zu sehr als
Herr auf seinem Hofe, der alte Junge. Jedenfalls als Herr iiber mich, der ich heute
sein Gnadenbrot esse.
Ja, ja, kleiner Thorir, deinenNamen hast du nun trotz allem doch von mir bc-
kommen. Das war so damals: Als du auf die Welt kamst, da warst du nur der
Sohn deines Vaters, und dein Vater war nur Bauer hier auf Gil. Ich aber war
Studiosus in Kopenhagen und war der Stolz der Familie. Da war es gar etwas
Ehrenvolles fiir dich, meinen Namen tragen zu diirfen. Nun wiirdest du wahr-
scheinlich etwas darum geben, den Namen ándern zu können. Das Kirchenbuch
aber hált fest an dem Seinen. Wie einst Pilatus, so sagt es: ,,Was ich geschrie-
ben habe, das habe ich geschrieben.“
Aber was schwátze ich hier herum! Ich wollte doch vom Wetter sprechen. Mit
dem Weihnachtsmond kam Tauwetter, so daB die Schneelast merklich leichter
wurde. Zwischen Weihnachten und Neujahr klárte es sich auf, es gab klares und
stilles Wetter mit Frost, der Schnee wurde zu Ilarsch.
Am dritten Weihnachtstag kommt Thorir zu mir, wáhrend ich am Bettpfosten
stehe und RoBhaar spinne. Ich habe den Haarstrang auf dem Pfosten festgedreht
und stehe zum Fenster gewandt, den Riicken gegen die Ttir zu. Thorir trippelt
erst einen Augenblick hinter mir herum, ich merke deutlich, daB er etwas auf dem
Herzen hat. Dann tritt er an mich heran und sagt mit einem schon mehr als selbst-
bewuBten Zug im Gesicht, er wolle mich daran erinnern, daB jetzt zu Neujahr das
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