Mitteilungen der Islandfreunde - 01.12.1934, Síða 19
Nach der Abendmahlzeit lief ich ziemlich unruhig auf dem ganzen Hof herurn.
Ich zog so nach und nach das beste Zeug an, das ich besitze, und dann etwas, das
am ehesten vorm Wetter schiitzen konnte. Die andern spielten Karten drinnen
in der Stube. Um mich kiimmerte sich keiner. Die Uhr ging gewifi schon auf
zwölf, als ich mich auf den Weg machte. Aber die Uhr hier ist natiirlich genau so
verdreht wie alles andere, immer eine oder zwei Stunden der Sonne voraus. Zum
Gliick brauche ich mich nicht nach ihr zu richten. Ich diirfte die Stundenmarken
hier auf Gil wohl kennen, in der Nacht sowohl wie am Tage.
Ich ging nach vorn in den Schlafraum und nahm dort aus meiner Kiste einen
kleinen Kasten, klemmte ihn unter den Arm und trat hinaus in den Flurgang.
Da traf ich auf Truda. Sie kam von der anderen Seite aus der Kiiche mit einer
kleinen Öllampe in der Hand, die sie mir aus lauter Neugier fast ins Gesicht stieB.
Dann fragte sie mich, wohin ich wollte. Ich meinte, das ginge sie wenig an, und
zugleich blickte ich sie mit solchen Augen an, daB sie voller Erregung fortstiirzte.
Sie hat naturlich den Leuten drinnen erzahlt, daB ich zur Schlucht hinaus wollte,
um mich umzubringen. Und Thorir hat dann natiirlich verboten, sich irgendwie
darum zu kiimmern; es ware das (wahrscheinlich!) der gröBte Gefallen, den ich
ihm tun könnte.
Ich tastete mich aus dem Hause hinaus und die Hauswiese hinauf bis zur
Schlucht. Den ganzen Weg lang war glatter Harsch, doch kam ich eigent-
lich merkwiirdig gut vorwarts. Auf dem Geröll gegeniiber dem Stekkjarwasser-
fall machte ich halt, gerade am Rande der Schlucht. Ich setzte mich auf einen
Stein, der aus dem Schnee hervorsah, und legte den Kasten neben mich. Es war
heller Mondschein und ganz still, doch nur leichter Frost; im Siiden zog eine
kleine Wetterwolke auf. Der Wasserfall in der Schlucht dröhnte ungewöhnlich
laut, so wie immer bei Siidwind.
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Ich öffne den Kasten. Eine Flasche ist darin, ein silberner Becher und ein
Korkzieher.
Meine letzten Schátze, gliihend von alten Erinnerungen. Manche Perle Weines
hat in diesem alten, edlen Becher geglánzt. Er ist in der Gilsfamilie von Ge-
schlecht zu Geschlecht vererbt worden. Immer der Beste der Familie hat ihn
besessen. Und alle haben sie die gute Kraft des Weines zu schátzen gewufit. Mir
gab ihn mein seliger Yater, als ich nach Kopenhagen fuhr. Er fiirchtete, daB wir
uns nie wieder sehen wiirden — und so kam es auch. ,,Du sollst diesen Becher zu
eigen nehmen, Thorir“, sagte er, ,,ich weiB, daB du zu deiner Zeit der Beste des
Geschlechtes sein wirst.“
Zu deiner Zeit!
Ja, so und nicht anders waren seine Worte: „Ich weiB, daB du der Beste des
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