Mitteilungen der Islandfreunde - 01.01.1936, Blaðsíða 3
Aus der ScMufíbetrachtung
Wir haben gesehen, daB das Herrengefiihl (stórlæti) der Hauptzug in dem Eigen-
bewuBtsein unserer Vorvater war, und daB ihr Menschenbild das Bild eines aus-
gepragten Herrentums war. Sie wollten Herren sein. Immer aber, wenn wir einen
einzelnen Menschen oder ein ganzes Volk erkennen wollen, gilt es, das mensch-
liche Zeitbild zu erkennen, das allem menschlichen Streben den Weg weist, so oft
auch innere oder aufiere Machte den Menschen von diesem Wege abdrangen mö-
gen. Die Islánder haben immer Herren sein wollen und haben immer versucht es
zu sein, wo und wie es nur möglich war. ÁuBere Umstánde haben ihnen hierin
oft enge Grenzen gezogen. Kaum jemals aber ist dadurch ihre Úberzeugung zer-
stört worden, daB sie ihrem Wesen nach Herren seien, auch da, wo es nicht mög-
lich war, dies nach aufien hin darzustellen. Die Erinnerung an ihre Herkunft hat
diesem Gefuhl immer wieder neue Nahrung gegeben. Daher stammt auch frúher
wie heute die starke Anteilnahme der Islánder an jeglicher Familiengeschichte
und Sippenkunde; der bewufite Sippenstolz hat bis in unsere Zeit hinein eine
grofie Rolle bei der Eheschliefiung gespielt und damit selbst am meisten zu seiner
Erhaltung beigetragen. Immer, wenn die Islánder ihre Sagas lasen oder hörten,
empfanden sie die Verwandtschaft und die Gemeinsamkeit mit ihren Vorfahren,
und die alten Erzáhlungen ihrerseits haben Geschlecht um Geschlecht die Spra-
che und die Denkart der Islánder geprágt und auf diese Weise den lebendigen
Zusammenhang mit der Vergangenheit und den Glauben wachgehalten, dafi das
Wesen der Menschen noch immer das gleiche sei. Soweit die Islander tiberhaupt
an der Art ihrer Vorfahren festgehalten haben, ist unter ihnen dieselbe Denkart
lebendig gewesen, wie sie in den Worten von JónLoftsson sich ausdrúckt: „Ich
vernehme wohl die Botschaft des Erzbischofs, aber ich bin fest entschlossen, ihr
keinen Schritt zu folgen, denn ich glaube nicht, dafi er etwas Besseres will oder
weifi als meine Vorfahren, der weise Sæmundur und seine Söhne.“
Die Islánder sind oft als sittlich fest, gutmútig, gastfrei, freigebig und froh-
sinnig bezeichnet worden. Alle diese Eigenschaften aber sind Zúge des in dem
alten Sittengedicht (Hávamál) tiberlieferten Menschenbildes und entsprechen
dem Herrentum. Wo die Herrenart sich mit diesen Tugenden verbindet, da ge-
deiht das allen zum Guten.
Die Spannung und Schwierigkeit entsteht erst da, wo die Menschen solcher
Art etwas untereinander auszumachen haben und dann alle als Herren und
Háuptlinge gelten wollen. Wir haben frúher gezeigt, wie unsere Váter innerhalb
des staatlichen Lebens durch die Staatsform des alten Freistaates diese Schwie-
rigkeit zu meistern versucht haben. Man schuf einen Ausgleich. Das war aller-
dings auch die einzige denkbare Lösung, und diese Gemeinschaftsidee hat seit-
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