Bibliotheca Arnamagnæana - 01.06.2010, Page 97
Liebe und Durst
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die Brust gereicht, hatte sie seine weitere Entwicklung vorausgesehen,
bleibt ohne Entsprechung, greift jedoch ein Thema auf, das in einem
ganz anderen Kontext schon eingangs der Vita angesprochen wird
(1,1). Dort heifit es nåmlich, sie håbe als hochadelige Dame ihre Kinder
nicht ammen lassen, vielmehr wollte sie mit ihrer Muttermilch das
Gute, das sie in sich verspiirte, den Kinder einfloften.52 Warum diese
beiden Stellen im altislandischen Text miteinander verbunden werden,
ist nur zu offensichtlich. Damit wird in die Biographie Bernhards
an fruher Stelle ein Verweis auf das eingebaut, was das Zentrum des
ganzen Textes ausmacht: die Erscheinung Marias und die Lactatio
Bernhards durch die Brust der Gottesmutter: Wird hier das Stillen des
Sohns durch seine leibliche Mutter als bemerkenswerte Zuwendung
herausgestellt,53 mit der Bernhard gleichsam die positive miitterliche
Substanz eingeflofit wird, um wie viel aufierordentlicher muft es dann
erscheinen, wenn spater Maria selbst an die Stelle der Mutter tritt und
diese Gunst gewahrt.
3. Nur der altislåndische Text schildert die Hinwendung Bernhards
zu geistlichen Dingen und schliefilich seinen Klostereintritt als Folge
Gedanken, ins Kloster zu gehen, boten sie alles auf, seinen Sinn auf das gelehrte
Studium zu lenken und durch die Liebe zur weltlichen Wissenschaft an die Welt
zu fesseln. Kein Wunder, dafi es ihren Bemiihungen, wie er zu versichern pflegte,
beinahe gelungen ware, ihn von seinem Schritte zuriickzuhalten. Doch der Gedanke
an seine heilige Mutter setzte ihm lastig zu. Oft schien er sie zu sehen, wie sie auf
ihn zukam, sich beklagte und ihm Vorwiirfe machte (Sinz (Ubers.) 1962, S. 43;
vgl. Paffrath 1984, S. 44).
52 Propter quod etiam alienis uberibus nutriendos committere illustris femina refugiebat,
quasi cum lacte materno matemi quodammodo botii infundens eis naturam [...] (Ma-
billon (Ed.) 1833, Sp. 227) ‘Deshalb verschmahte sie, die hochadelige Dame, es
auch, ihre Kinder an ffemden Brusten ammen zu lassen, als wollte sie mit ihrer
Muttermilch auch das Gute, das die Mutter in sich hatte, in die Kinder flofien [...]’
(Sinz (Ubers.) 1962, S. 36).
53 Vgl. Schreiner 1994, S. 192.