Bibliotheca Arnamagnæana - 01.06.2010, Síða 110
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Wilhelm Heizmann
allerdings ein Problem. Ohne Kenntnis des lateinischen Textes ist der
islandische kaum zu verstehen. Die Schwierigkeiten beginnen schon
mit der Bestimmung des Pflanzennamens lilia, der in diesem Abschnitt
dreimal vorkommt.93 Dann werden im islandischen Text statt dreier
Tugenden der lateinischen Vorlage (virginitas, humilitas, caritas) nur
93 Im Islandischen gehort lilja zu den femininen on-Stammen. Der lateinische Text
verwendet dagegen das Neutrum lilium, das neben dem Femininum lilia gele-
gentlich auch in altislandischen Texten als Fremdwort tibernommen wird (vgl.
Heizmann 1993a, S. 36). Demnach liefie sich millum lilja als Gen. PI. bestimmen,
wahrend dem lateinischen Text (inter lilia) das Neutrum lilium zugrunde liegt. Was
aber ist mit fagrar lilia? Da hier das Adjektiv das Geschlecht vorgibt, ware bei
der Annahme eines isl. Femininum der Akk. PI. liljur zu erwarten. Diese Form
ist aber in keiner Handschrift des Textes bezeugt. Nimmt man lilia dagegen als
lateinisches Fremdwort, dann kann es sich hier in Entsprechung zum lateinischen
Text (inserere lilia) (vgl. Anm. 100) nur um den Akk. PI. zu lilium handeln, dessen
Geschlecht damit nicht mit der Form des Adjektivs kongruent ware. Will man diese
Inkongruenz nicht bestehen lassen, dann liefie sich dieser Befund so verstehen,
dafi der Islander das lateinische Wort in der Form ubernimmt, die er in seiner
Vorlage vorfindet {lilia) und er dieses Wort fur ein Femininum halt, ohne sich
jedoch dariiber Rechenschaft zu geben, dafi die korrekte lateinische Form dann lilias
heifien miifite. Was die Bestimmung von hvitustu lilia betrifit, so liefie sich die Form
des Substantivs zunåchst als Gen. PI. zu lilja bestimmen. Geht man dagegen von
einem lateinischen lilium aus, dann lafit sich lilia nur als Nom./Akk. PI. erklaren.
Eine zusatzliche Komplikation ergibt sich daraus, dafi die Handschrift E hier
die Superlativform zu hvitasta verbessert und damit zu erkennen gibt, dafi der
Schreiber von einem Femininum im Nom. Sg. ausgeht. Will man vermeiden, in
den iiberlieferten Text starker einzugreifen — etwa in der Form, dafi man nach
var ein {hann millim) erganzt, um hvitustu lilja als Gen. PI. verstehen zu konnen,
wobei dann konsequenterweise auch die von am 655 xxxii 4to und E iiberlieferte
Form astargjafir durch die Lesart astargjafar in St. ersetzt werden und diese Form
dann nicht als Nom. PI., sondern als Gen. Sg. aufgefafit werden miifite —, dann
bietet sich auch an dieser Stelle an, lilia als lateinische Form anzusehen. Dem
altislandischen Text liefie sich so ein Verstandnis abringen, das dem lateinischen
Original einigermafien nahe kommt. Aus Grunden der Einheitlichkeit ziehe ich es
weiter vor, in dieser Passage nicht von einem Nebeneinander von aisl. lilja und lat.
lilia auszugehen.