Mitteilungen der Islandfreunde - 01.06.1932, Blaðsíða 4
wetter, so daB die Schneemasse vereiste. Bis zum Beginn des Sommers
zog der dauemde Wetterwechsel sich hin. Da waren die Heuvorráte der
Bauern stark zur Neige gegangen; in der Gemeinde Tunga ging es dem
einen so schlecht wie dem andern, alle wareu beim letzten Halm angelangt,
und dabei lag im ganzen Dand die Erde in Fesseln: der Boden war mit
vereistem Schnee undurchdringlich bedeckt und bis in den Grund ge-
froren. Eine allgemeine Gemeindeversammlung, von Jón als Vorsteher
geleitet, wurde abgehalten, um die Notlage zu besprechen und Rat zu
schaffen.
Nachdem die Bauern sich ausgesprochen hatten, war klar, daJ3 ein allge-
meines Viehsterben drohte, „aufier wenn Gott in den náchsten Tagen
Einderung schafft" — oder der alte Brandur auf Hóll sein Heu hergab.
Das wiirde helfen, wenn das Heu rechtmáBig unter die verteilt wiirde,
bei denen es am knappsten war. Man veranschlagte, wieviel Gewichts-
hunderte das Heu wohl abgeben wiirde und war der Meinung, daB man
auf diese Weise die Schafe der Gemeindebauern noch einen halben Monat
am Eeben erhalten könnte, selbst wenn man sie diese Zeit iiber noch im
Stall fiittern miiBte.
Nun war es an Jón, sich an den alten Mann heranzumachen, denn er
war Gemeindevorsteher und dazu ja Brandurs Schwiegersohn.
Jón ritt heim von der Versammlung, dabei fiihrte ihn sein Weg úber
den Hofplatz auf Hóll. Das Wetter war kalt; aber die Euft war ruhig und
uber dem schneegebannten Eand lag die Abendsonne. Der Frostmantel
lieB die Strahlen abprallen, als wenn er nichts von der Sonne wissen wolle.
Wo ein Hugelrand oder ein Stein aus dem Schnee herausragte, blátterte
die Frostschicht etwas ab; an diesen Stellen hatte es am Mittag ein
wenig getaut, aber auch nur an der Súdseite. Quellen und Wasserfálle
schliefen, tief in Schweigen gehúllt. Frierende Stille herrschte úber
dem Tal. Kein Vogel lieB sich sehen, nicht eine einzige Schneeammer.
Nur zwei Raben flogen zwischen den Höfen hin und her, ilir Schreien
war Hunger.
Als Jón nach Hóll kam, wollte es der Zufall, daB der alte Brandur drauBen
bei seinemHeu war, — jetzt eben tastete er sorgfáltig an ihm herum und
záhlte die Rasenstreifen, sodaB Jón ganz deutlich hören konnte: ,,Ei-ns,
zwei-ei, drei“.
Jón stieg vom Pferde, ging zu Brandur und begriiBte ihn mit einem KuB.
„GegrúBt, Gott segne dich“, gab Brandur zurúck. „Wer grúBt mich
denn?“
„Jón von Bakki. Ich sollte Dir Grússe bringen."
„Ah — gewiB! Ist Gudrun gesund?"
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