Milli mála - 01.01.2013, Page 99
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aller Wissenschaften […], die fachkundige Handhabung aller
Hilfsmittel universitärer Bildung sowie die eigenständige Anver-
wandlung des erworbenen Wissens“ und „schließlich die Fähigkeit
zu Unterweisung und Unterricht im Lehrberuf […]“ (Siebers 1991:
52). Zum Berufsethos des Gelehrten gehörte es aber auch, den all-
gemeinen Erkenntnisfortschritt zu fördern und erlangtes Wissen an
die Gelehrtengemeinschaft weiterzugeben. Der Begriff „Infor-
mations schöpfung“ bezeichnet daher „die gezielte Auffindung und
Bereitstellung von Nachrichten aus der akademischen Welt für die
größere Öffentlichkeit der Gelehrtenrepublik“ (Siebers 1991: 52).
Für mittellose Privatgelehrte war die Ausübung eines Hof-
meisteramtes während einer adligen Kavalierstour die beste Möglich-
keit zu einer Reise. Mit der Ausdifferenzierung des Wissen schafts-
systems und der wissenschaftlichen Publikationsformen verlor die
Gelehrtenreise jedoch allmählich das oben beschriebene Gepräge.
Ab dem zweiten Drittel des 18. Jahrhunderts lebte sie in der verän-
derten Gestalt der literarischen und enzyklopädischen Reise fort.
Die Reiseländer entsprachen denen der Kavalierstour, selbstver-
ständlich besuchten die Gelehrten in Anbetracht ihrer Reisezwecke
aber oft andere Schauplätze. Paris war das internationale Gelehrten-
zentrum. So wie Rom das Zentrum der katholischen Geisteswelt
war, kreuzten sich in Paris die Verbindungswege und Nachrichten-
kanäle der gelehrten Welt. Italien suchte man vor allem wegen sei-
ner Tradition, der Bibliotheken, Archive, Kunst- und Baudenkmäler
aus Renaissance und Antike auf. Holland und England nahmen für
die Gelehrtenreise einen höheren Stellenwert ein, als es bei der
Kavalierstour der Fall war. Vor allem wirkten die republikanische
Verfassung der Länder, der hohe Stand der Wissenschaften und die
großzügige Wissenschaftspolitik als Anziehungskräfte. Das Ziel ei-
ner Gelehrtenreise war aber nicht nur die Vervollkommnung der
eigenen Bildung, sondern auch − wie bereits angesprochen − die
Veröffentlichung in wissenschaftlichen Publikationen. Daneben
wurden, wenngleich in geringerem Umfang, Reiseberichte veröf-
fentlicht, die sich an ein gelehrtes Publikum richteten und deshalb
zumeist in der entsprechenden Gelehrtensprache verfasst wurden.
Diese beiden, voneinander durchaus abhängigen Reiseformen
gingen in unterschiedlichem Maße in die Grand Tour ein. Winfried
MARION LERNER