Milli mála - 01.01.2013, Side 100
100
Siebers datiert, wie oben gesehen, die traditionelle Kavalierstour
bis etwa 1740. Attilio Brilli findet den Begriff Grand Tour erstmals
am Ende des 17. Jahrhunderts (Brilli 1997). Die Studenten aus
England, Frankreich, Deutschland und anderen Ländern, die im 15.
und 16. Jahrhundert die italienischen Universitäten besuchten,
begreift er als Verbindungsglied zwischen dem modernen Reisenden,
wozu der Grandtourist bereits zu zählen ist, und der langen mittel-
alterlichen Tradition der heiligen und profanen Reise:
Mit dem Niedergang der italienischen Universitäten […] wird der lang-
jährige Aufenthalt auf dem Kontinent oder in Italien obsolet. Statt dessen
stellt sich nunmehr die relativ zügige Reise oder Wanderung von Stadt
zu Stadt als die neue Erfahrung dar, die es zu machen gilt; eine Erfahrung,
die dazu geeignet ist, aus den Söhnen der Aristokratie und der aufsteigen-
den Gesellschaftsschichten – den Händlern, den Staatsdienern und den
Angehörigen freier Berufe – wahre Männer von Welt und zukünftige
Diplomaten zu machen. Um diesem neuen, weitgespannten Ziel unter
ganz anderen historischen und kulturellen Bedingungen gerecht zu wer-
den als zur Zeit der Renaissance, entsteht jene besondere Institution, die
am Ende des 17. Jahrhunderts die Bezeichnung Grand Tour erhält. (Brilli
1997: 15)
Im Laufe des 18. Jahrhunderts verbreitete sich die neue Sitte der
Grand Tour zusehends. Das Typische an der Tour war, dass es sich
um eine Rundreise handelte, die durch den europäischen Kontinent
führte, wobei die wichtigste Etappe der Reise nach wie vor Italien
blieb. Ganze Generationen von Adligen und Bürgerlichen haben
sich nach Abschluss ihrer formalen Ausbildung auf die Grand Tour
begeben. Der feste Kanon dessen, was gelernt werden sollte, löste
sich dabei langsam auf und passte sich den jeweiligen Erfordernissen
der Reisenden an. Das Alter der Grandtourists lag nach Brilli zwi-
schen 16 und 22 Jahren. Während bei den Vorformen der Grand
Tour die Nationalität der Reisenden noch keine Rolle spielte, weil
die Gepflogenheiten sozusagen gesamteuropäisch waren, war das
bei der neuen Reisepraxis anders: Die Grand Tour war eine engli-
sche „Erfindung“. England war in wirtschaftlicher Hinsicht wie in
naturwissenschaftlich-technischer den Nationen des Kontinents im
„AUS EINEM BRIEF AUS ISLAND“