Milli mála - 01.01.2013, Side 103
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Im Mai 1834 kehrte Tómas Sæmundsson von London über
Hamburg nach Kopenhagen zurück, wo er seine Freunde und frü-
heren Kommilitonen traf, die ihn an ihren Plänen zur Gründung
von Fjölnir beteiligten (Þórir Óskarsson 2003). In Kopenhagen an-
gekommen organisierte er sein künftiges Leben in Island, bewarb
sich um eine Pfarrstelle, ließ sich mit Empfehlungen ausstatten und
war sich vermutlich darüber bewusst, dass sein Reiseleben quer
durch Europa mit der Ankunft in Island beendet sein würde. Seine
letzte große Reiseetappe würde ihn von Kopenhagen nach Reykjavík
führen. Erst damit wären die Reise- und Bildungsjahre abgeschlos-
sen und ein sesshaftes Leben, möglicherweise eine Karriere in der
isländischen Kirche, würde sich anschließen. Meines Erachtens
kann daher die Schiffsreise von Kopenhagen nach Reykjavík durch-
aus noch als Teil der Grand Tour betrachtet werden. So wie auch das
Niederschreiben der Reise noch Teil des Bildungsprojektes war.
Jede Reise setzt sich aus verschiedenen Phasen zusammen, so-
wohl was die Bewegung im Raum angeht, als auch was das Erleben
des reisenden Subjekts betrifft. Grob gesehen sind es mindestens die
drei Phasen des Aufbruchs, der Passage und der Ankunft.3 Bei einer
zwei Jahre währenden Reise, die immer wieder durch lange
Aufenthalte in einzelnen Städten unterbrochen wurde, lassen sich
ganz gewiss auch untergeordnete, immer neue Aufbrüche feststel-
len. Autoren von Reiseberichten thematisieren dies sogar, indem sie
erwähnen, wie schwer es ihnen fällt, ein vorübergehendes Zuhause
und die eben erst geknüpften, wenn auch prekären sozialen Bezieh-
ungen zu verlassen und die Reise fortzusetzen. Tómas Sæmunds son
tut dies im Rückblick bspw. für seine Abreise aus Rom (TS 1947:
253).
Aufbrüche sind generell von einer emotionalen Mischung aus
Verlust, Trauer und Angst auf der einen Seite und Spannung,
Neugier und Unternehmungslust auf der anderen Seite geprägt. Für
Ankünfte gilt entsprechend eine Mischung aus Entlastung, nachlas-
sender Anspannung und Wiedersehensfreude einerseits, und auch
von Fremdsein, Verlust der Mobilität und Zwang zur Anpassung
3 Unter diesen Vorzeichen ist der Band „Ästhetik des Reisens“, herausgegeben von Paolo Bianchi,
in drei Abschnitte gegliedert: Abfahrt, Passage und Ankunft. Kunstforum International. Bd.
136.
MARION LERNER