Milli mála - 01.01.2013, Blaðsíða 115
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Zwar ist hier vom Entwurf zum Vorwort von Fjölnir die Rede, doch
kann man davon ausgehen, dass mit dem „Brief aus Island“ zur
Veröffentlichung nicht viel anders verfahren wurde, zumal ähnliche
Aussagen auch in späteren Briefen in Verbindung mit anderen
Texten zu finden sind. Zu diesem frühen Zeitpunkt war Tómas
Sæmundsson noch optimistisch und stellte sich die von ihm
ge wünschte Bearbeitung und Verbesserung wie eine Über setzung
vor: „Ich denke, am besten wäre es, wenn Ihr es alles gemeinsam
lesen und Satz für Satz durchgehen würdet, ganz so als wenn Ihr
über setzt.“15 In späteren Stadien führte diese Verfahrensweise
ge mein sam mit anderen praktischen Angelegenheiten zu Konflikten
und Verzögerungen. Zunehmend stellte sich bei Tómas Sæmunds-
son Frustration über die hohen Anforderungen an die sprachliche
Ge staltung ein, die er als Fesseln empfand, die ihn an der Text-
produktion hinderten.16
Formal gibt der abgedruckte Text nicht zu erkennen, dass er ein
Brief ist. Es gibt weder eine Anrede noch einen Gruß am Ende.
Lediglich der Titel „Aus einem Brief …“, versehen mit einem
Datum, sowie die im Text punktuell auftauchende Ansprache eines
Du, erweitert auch als Ihr/Euch, qualifizieren ihn als Brief. Der
mehrmalige Wechsel zwischen der 2. Person Singular und Plural
verleiht dem Text eine gewisse Inkonsistenz. Absätze und aneinan-
dergereihte Gedankenstriche zeigen an, dass er gekürzt oder aus
mehreren Texten zusammengesetzt wurde. Doch wovon erzählt der
Brief? Wovon handelt er? Und wie ist er aufgebaut?
In einem kurzen Anfangskapitel werden Abschied, Trauer und
Heimweh thematisiert und eine gewisse Anspannung vor der Reise
(48–49). Dieser Einstieg ist nicht untypisch für Reiseberichte und
entspringt der oben thematisierten zwiespältigen Situation des
Abreisenden. In diesem spezifischen Fall ist die Lage sogar noch
komplizierter, weil Tómas Sæmundsson nicht nur, wie er zu Recht
annimmt, die dänische Hauptstadt und das europäische Festland
15 TS 1907: 130. „Ég held bezt færi [á, að] þið læsuð það allir sameiginlega í gegnum og gegnum-
genguð setningu fyrir setningu, eins og þá er þið eruð að útleggja.“
16 So in seinem Brief vom 15.02.1837 an Konráð Gíslason (TS 1907: 205). Zwei Jahre später gipfelt
ein sehr geharnischter Brief vom 01.02.1839 an Jónas Hallgrímsson in dem Ausruf, er wolle die
gute Sprache nicht für Inhalt und Geist eintauschen und wenn die Isländer erst denken lernten,
dann würden sie schon bald von selbst sprechen lernen (TS 1907: 251).
MARION LERNER