Milli mála - 01.01.2013, Page 119
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Wetters, der Lichtverhältnisse und geografischen Gegebenheiten
im Norden Islands (92–93), wie sie typisch in ausländischen
Reiseberichten vorkommen. Das Schlusskapitel ist wiederum der
Kritik lasterhaften Verhaltens und mangelhaften gesetzgeberischen
Eingreifens vorbehalten (93), wirkt aber in gewisser Weise frag-
mentär. Ein eigentliches Resümee fehlt.
Die Struktur des Textes erlaubt es zweifelsfrei, für beide Teile
eine gerichtete Bewegung im Raum nachzuvollziehen. Die Dar-
stellung folgt dem natürlichen chronologischen Ablauf von einem
Anfangs- bis zu einem Zielpunkt. Die lineare Struktur des Reise-
berichtes ist also trotz zahlreicher Einschübe und Exkurse einge-
halten worden.
7. Schlussbetrachtungen
Auffällig an diesem Reisebericht ist einerseits, dass der Autor einen
sehr nüchternen, kritischen und beinahe kalten Blick auf das Land
wirft, in das er gerade heimgekehrt ist. Im Grunde wendet er die-
selbe Methodik an, die er sich für seine Grand Tour antrainiert hat
und die sich wenig später in seinem Reisebuch niederschlagen
wird: einen systematisch-analytischen Blick und eine entsprechen-
de Darstellung. Tómas Sæmundsson schreibt, um sein Publikum
zu informieren und aufzuklären, um auf mögliche Neuerungen und
neue Wege zur Lösung alter Probleme aufmerksam zu machen.
Gezeigt wird, was gut gelingt und was der Verbesserung bedarf,
um Fortschritt zu erlangen.
Interessant ist andererseits, wovon der Brief nicht spricht: Er
zeigt kaum emotionale Beteiligung (abgesehen von der Abschieds-
s zene), spricht nicht vom Wiedersehen, noch nicht einmal vom Ziel
der Reise, die den Verfasser immerhin zu seiner Verlobten und spä-
ter zu seinen Angehörigen führte. Vermutlich ist diese merkwürdi-
ge Leerstelle mit der biografischen Situation zu erklären. Als er den
Brief verfasste, befand sich Tómas Sæmundsson nach meiner
Interpretation noch immer in der Phase der Passage. Immerhin ist
es schwierig, Dinge in Worte zu fassen, die noch nicht hinter einem
MARION LERNER