Le Nord : revue internationale des Pays de Nord - 01.06.1942, Síða 92
MODERNE PHILOSOPHISCHE STRÖMUN-
GEN IN FINNLAND
Von Dr. Jan Gastrin,
Dozent an der Universitat zu Helsingfors.
JEGLICHE Bildung ruht am Ende auf unfreiem Grunde«;
diese Ausserung Tegnérs trifft wohl selten in dem Masse
zu wie fiir die philosophische Forschung in verschiedenen
europáischen Lándern. Seit der Endperiode des Mittelalters
hat sich der mitteleuropáische Gedankenaustausch unter lebhaf-
ter Wechselwirkung zwischen nationalen Impulsen und genialer
individueller Neuschöpfung vollzogen. Die grossen geistigen
Bewegungen der Reformation und Gegenreformation banden ja
dann teilweise die intellektuellen Arbeitsleistungen, die theolo-
gischer Fárbung und theologischer Beziehung waren, an die sehr
irdischen Zielsetzungen der nationalen Staatsbildungen, die Philo-
sophie im eigentlichen Sinne aber wurde dadurch nur noch freier
als zuvor, frei, Impulse aufzusuchen, wo sich solche darboten,
und frei, sie zu bearbeiten. Humes Kritik der menschlichen Ver-
nunft ermangelt nationaler Quellen, ebenso das fortgesetzte Den-
ken Kants iiber Humes Kritik. Ist es nicht typisch, dass einer der
amerikanischsten aller amerikanischen Denker, William James,
in seiner Jugend zu den Fiissen Wundts gesessen, und dass der
am meisten ausgeprágt finnische unter allen Arbeitern des Ge-
dankens in Finnland, J. V. Snellman, sowohl in Schweden wie
Deutschland studiert hat! So arbeitet die Philosophie iiber die
Grenzen der Nationen hinaus und verbreitet das Licht der Er-
kenntnis, das in einem einzelnen Lande aufflammt, stándig
iiber weitere Lánder und Völker.
Als das neunzehnte Jahrhundert zu Ende ging, waren es in
Finnland ausser Hegel vor allem Lotze und die damals neue
Sinnesphysiologie, welche die Geister wach hielten — wir sehen
in diesem Zusammenhang absichtlich von allen politischen Digres-
sionen ab. Die Wirksamkeit Edward Westermarcks und seine
einzigdastehende wissenschaftliche Laufbahn gaben jedoch schon
im ersten Morgengrauen des Jahrhunderts die Anregung zU
soziologischen und ethnologischen Forschungen, die u. a. in der
Form von Reisen nach exotischen Lándern (Karsten nach Sud-
amerika, Landtman nach Neu Guinea) zum Ausdruck kamen,