Mitteilungen der Islandfreunde - 01.04.1934, Blaðsíða 6
Zum kiinstlerischen Erleben der Islánder-Sagas
von Jón Leifs, Island
In der „Deutschen Zeitschrift“ (Kunstwart) schildert Josef Diinninger die Bnt-
stehung der islándischen Sagas. Br schreibt u. a.: „Die báuerlich-kriegerische
Welt Islands hat sich einen unerhört starken und eigenartigen Ausdruck geschaf-
fen in ihren Sagas, d. h. Familienromanen. Gerade diese Sagas gehen uns heute
besonders nahe und erscheinen uns als die dichteste Formung germanischen We-
sens iiberhaupt.“ — Nicht nur in diesen Romanen, sondern in der gesamten kul-
turellen Uberheferung Islands, findet das heutige Deutschland einen wichtigen
Teil der gesuchten Quellen seines Volkstums, seiner Herkunft. Dabei handelt es
sich hier um eine ErschlieBung, die nicht im alleinigen Zusammenhang mit der
staatspolitischen Lage Deutschlands steht, sondern einer allgemeinen und in ge-
wissem Sinne internationalen kulturellen oder kiinstlerischen Bntwicklung des
20. Jahrhunderts entspringt, die noch keineswegs abgeschlossen ist, sondern viel-
mehr im Anfang zu stehen scheint. Deutschland hatte von jeher hierin eine ge-
wisse Fxihnmg vor den anderen Lándern. Die seit 1930 vollstándig vorliegende
Gesamtausgabe der alt-islándischen Literatur1 mit den Eddas, Sagas usw. in
deutscher Úbersetzung ist z. B. eine GroBtat, die in gleichem Umfange kein an-
deres Volk aufweisen kann. Einiges erschien bei dieser Gelegenheit zumersten
Male iiberhaupt in einer Úbersetzung. Zuerst waren es die Gelehrten, die sich mit
diesen Stoffen befaBten und auch die Úbersetzungen besorgten. Es besteht aber
durch die Gelehrsamkeit eine groBe Gefahr, daB diese im höchsten Sinne volks-
hafte Monumentalkunst, die gerade den deutschen Menschen soviel zu geben ver-
mag, trotz allem volksfremd bleibt.
Deshalb ergreift hier einlslánder dasWort, der diese Literatur aus derOriginal-
sprache seiner Heimat kennt, zugleich aber die Hálfte seines Lebens in Deutsch-
land verbracht hat, und so den Versuch wagen darf, Wege zum kiinstlerischen Er-
leben dieser Dichtung zu zeigen. Der Verfasser ist kein Gelehrter, nicht einmal
literarischer Fachmann, und es mag sein, daB die Betrachtungsweise manchmal
den Musiker verrát. Wohl stehen wir bei den Sagas auch historischen Tatsachen
gegeniiber, aber fur das Volk handelt es sich hier wohl in erster Linie um eine
Kunst, — Erzáhlungen, Romane — und Kunst ist nichts zum Erkláren und Zer-
reden, sondern zum lebendigen Erleben. Es ist auffállig, daB in Deutschland die
áltere Edda in der Genzmerschen Úbersetzung bereits einen groBen Leserkreis
gefunden hat, wáhrend die Sagas noch viel weniger gelesen werden. Bei ims im
Norden ist das vielleicht umgekehrt. Die Grúnde fiir die gröBere Popularitát der
Edda in Deutschland sind gewifl nicht nur in der álteren Prominenz des Namens
1 Sammlung „Thule“, Eugen Diederichs Verlag.
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