Mitteilungen der Islandfreunde - 01.12.1935, Síða 9
DaB es sich so verhált, ist indessen fiir náher Unterrichtete durchaus nicht so
natiirlich, wie es allgemein erscheinen mag. Aber das Seltsamste daran ist, daB
diese Unkenntnis, diese Indifferenz der sogenannten groBen Welt nicht etwa
durch Islands Kleinheit verschuldet wird, wie doch jeder wohl denkt, sondern
vielmehr durch die besondere Art seiner GröBe. Der Schweizer Geschichts-
philosoph Jakob Burkhardt hat uns neuzeitlichen Menschen einmal den Vorwurf
gemacht, daB wir leicht dem Irrtum verfielen, GröBe und Macht zu verwechseln,
daB wir in den meisten Fállen die erstere tiberhaupt zu erkennen verlernt hátten,
sofern sie mit der letzteren nicht verbunden sei, ja er geht schlieBlich so weit,
unsere Bmpfindung fúr GröBe fúr eine Art verdrángte politische Hörigkeit zu
erkláren. Da, wo man sich keiner Macht zu beugen habe, verkenne man in den
meisten Fállen die GröBe. Die islándische GröBe, die ich hier meine, hat schon seit
ihrem Ursprung den Nachteil gehabt, jeder zu ihrer wahren Geltung erforder-
lichen Macht zu entbehren. Dies liegt zunáchst in der Tatsache begrúndet, daB
sie sich keiner weithin sichtbaren Zeichen bedient, sondern ganz im Geistigen
enthalten ist, und zwar allein in jenen Formen des Geistes, die uns nur die in-
time Náhe des Erlebnisses zu vermitteln vermag. Sie hat sich auf ihrem Heimat-
boden keine ins Auge springenden Denkmáler gebaut, ja, wer heute Island be-
sucht, wird sich múhelos der Ulusion erfreuen können, er befinde sich in einem
kulturell áuBerst unberúhrten Lande; denn was er da an zivilisatorischen Er-
scheinungen vorfinden mag, ist erstens inmitten der groBen Wildnis der Natur
nicht weiter störend, enthált auBerdem so gut wie keine spezifisch islándische
Eigenart. Von dem, was ich an Island groB nenne und was in der Tat dort nun
schon seit etwa tausend Jahren als eminentes Kulturgut lebend und wirkend, ja,
bis in die fernsten Gebiete nordgermanischer Kulturgemeinschaft noch heute
wirkend, gedeiht, von dem wird der Fremde in Island so ohne weiteres nicht viel
spúren, und man kann ihm deshalb wirklich keine groBen Vorwúrfe machen.
Dieser seltsame Umstand erklárt sich nun vollends: sowohl durch die islán-
dische Ohnmacht, sich Geltung zu verschaffen, als durch die fremde tíbermacht,
die sich aus mehr oder weniger guten Grúnden der Aneignung dieses Gutes be-
fleiBigt hat. Die islándische GröBe, die sich fúr die Umwelt fast ausschlieBlich im
literarischen Werk manifestiert hat, stellt sich einerseits als eine Leistung wehr-
loser, politisch völlig isolierter Individuen dar, denen es in ihrem leeren, ent-
legenen Lande an jenem nötigen Resonanzboden einer groBen Volksmasse fehlte,
welche jede kulturelle Kompetenz bedingt; andererseits aber war diese Leistung
ein derartiger Gewinn fúr die anderen — gröBeren — nordischen Völker, daB es
schlieBlich nicht wundernehmen kann, wenn sie ihn fúr sich sozusagen einstrichen.
Sie hatten es ohnehin áuBerst leicht damit, denn zu der Zeit, als dieses Gescháft
vor sich ging, war Island nicht allein jedes materiellen Widerstandes unfáhig,
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