Mitteilungen der Islandfreunde - 01.12.1935, Qupperneq 48
E. Prinz: Die Schöpfung der Gíslasaga
Súrssonar.Hirt, Breslau 1935.176S.gr.8°.
Die islándiache Saga ist heute auf dem Wege,
zum selbstverstándlichen Bildungsgut des
deutschen Volkes zu werden; eine Entwick-
lung, deren man sich nur von Herzen freuen
kann. Da ist es natiirlich, daC auch die Era-
gen, die mit dieser Literaturgattung in Zu-
sammenhang stehen, von vielen aufgeworfen
werden und Erörterungen iiber diese ein ge-
neigtes Ohr finden. Soll aber einer solchen
Arbeit der gewiinschte Erfolg besehieden
sein, dann geniigt es nicht mehr, die alten
Fragen iiberdie Art, wie man sich „die Saga“
entstanden denkt, und uber die Zeit, in der
sie aufs Pergament gelangte, im allgemeinen
zu erörtern, sondern es ist eine neue Behand-
lungsform nötig, die uns aufweist, was uns
die einzelne Saga als Kunstwerk sagt, was
wir aus Ihr selbst entnehmen und aus welchen
Voraussetzungen wir sie uns zu der Gestalt
erwachsen oder gestaltet vorstellen können,
in der sie uns entgegentritt.
Solche Art der Einzelbeobachtung ist zwar
nicht mehr ganz neu, aber sie bis in alle Ein-
zelheiten an einer Saga durchgefúhrt und da-
mit ein Vorbild fúr kúnftige Arbeit geschaffen
zu haben, ist das Verdienst der vorliegenden
Arbeit. Es ist eine wissenschaftliche Arbeit
im strengsten Sinne des Wortes. Aber der
Verf. hat durchaus den Anforderungen nicht-
philologischer Leser Rechnung getragen, in-
dem er neben den Hinweisen auf den Urtext
stándig die Ubersetzung der SammlungThule
(mit Angabe der Seitenzahl) anfúgt; diese
Ubersetzung der Textstellen fehlt nur in sol-
chen Abschnitten, wie der Textgestaltung und
Interpretationen der lausavísur (skaldischen
Strophen), bei denen ein Verstándnis ohne
grtindliche sprachliche Kenntnis nicht mög-
lich ist. Dadurch ist die Arbeit ftir jedermann
lesbar, der sich úber die an eine Saga sich
anschliefienden Fragen unterriehten will.
Die Arbeit zerfállt in drei Teile, deren er-
ster uns sagt, was der Verf. der Saga „erlebt,
gewollt und gemeint hat“; der zweite Teil
behandelt die Komposition im weitesten
Sinn, der dritte sucht aufzuweisen, was dem
Verf. an Uberlieferung zur Verfúgung stand
und was er hinzugetan hat.
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Es ist nieht möglich, die Unterabteilungen
im einzelnen hier zu behandeln; der auBer-
ordentliche Reichtum des Gebotenen, der als
erschöpfend bezeichnet werden muC, macht
es unmöglich. Auch ein Eingehen auf Einzel-
heiten, bei denen man etwa dem Verf. nicht
ganz zu folgen vermag, ist an dieser Stelle
nicht angebracht. Es sei daher lieber auf
einige Punkte hingewiesen, die besondere
Hervorhebung verdienen, ohne daC ich den
Gedankengang des Ganzen oder seine Ergeb-
nisse im einzelnen zusammenstellen wollte:
denn daftir ist ein wirkliches Verstándnis nur
durch die Lektúre des Buches selbst zu ge-
winnen. Von Anfang an liegt den Darlegun-
gen die Einsicht zugrunde, daB man von
einem wirklichen Verfasser der Saga sprechen
muB, und diese Voraussetzung wird begrún-
det durch den Nachweis, wie dieser bei der
Arbeit vorgegangen ist; wir lernen ihn kennen
als einen vollendeten Kúnstler, der in tech-
nischer Beziehung die ein- und mehrstrángige
Erzáhlungsform beherrscht, ohne sicli an
deren starren Gebrauch zu binden. Er bringt
eine bestimmte Weltanschauung zur Geltung:
im Mittelpunkte seines Interesses steht der
Mensch, nicht das Ereignis mit den Rollen;
das SchicksalistdasBestimmende im mensch-
lichen Leben (es macht aber die Menschen
nicht zu mutlosen Fatalisten!) und die Sippe
ist das Band, innerhalb dessen der einzelne
Mensch zur Geltung kommt; aber er erlebt
zugleich den Zerfall des Sippengeistes, indem
an Stelle der (heidnischen) Sippenoinheit die
(christliche) Einzelpersönlichkeit hervortritt
(was mit christlicher Gesinnung nichts zu tun
hat). Diese Entwicklung stellt uns der Ver-
fasser der Saga lebendig vor Augen an den
beiden sich gegentiberstehenden Gruppen der
Charaktere; diese Erkenntnis zeigt P. in
einer kurzgehaltenen, aber recht klaren und
anschauhchen Charakterisierung der Per-
sonen.
Eino wichtige Grundlage fúr den Verf. der
Saga sind die sog. Lausavisur. Zwar liefern
nur die Traumstrophen wirklichen Stoff fúr
die Prosaerzáhlung, aber der Verf. hat sie als
festliegendes Material verwendet. Der Nach-
weis, wie dieser Einbau vor sich ging und
welche Folgen er hatte, zeigt das klare Ur-
teil, mit dem P. an die Arbeit heranging.