Mitteilungen der Islandfreunde - 01.12.1935, Side 12
Island — bis auf einige áuBerst kummerliehe Bauerndialekte spurlos verschwun-
den war, sondern in ihr war ein vollstándiges Bild des altnordischen Lebens er-
halten, der altnordischen Sitten bis in die intimsten Genres des Alltags, des alt-
nordischen Götterglaubens in seinem wundersamen Reichtum und auBerdem
noch die wichtigsten Folgen der altnordischen politischen Geschichte, und all
das in einer solchen Gestaltenfúlle und naiver, farbiger Bewegtheit, daJ3 es so-
gleich miihelos allgemeines Volksgut wurde.
Die Einfiihrung dieser alten islándischen Literatur im skandinavischen Norden
geschah gewiB zur rechten Zeit. Die verstándnisvolle Aufnahme und bereitwillige
Förderung, die ihr zuteil wurde, erklárt sich aus der ganzen Geistesrichtung jener
Tage. Die Reformation und noch vielmehr die humanistische Denkweise hatten
den Gemiitern so weit objektive Bereitschaft beigebracht, wie sie zur Empfáng-
nis jener heidnischen Werke erforderlich war. Jenes romantische Bedúrfnis,
Rtickschau zu halten, das seit der Wiedergeburt der klassischen Wissenschaften
durch die italienische Renaissance und durch den deutschen Humanismus auch
hier oben so langsam in breitere Schichten des Volkes eingedrungen war, fand
beim Sichversenken in dieser klassischen tíberlieferung der eigenen Rasse die
stolzeste Befriedigung. So wurde diese Literatur sehr frtih sowohl das beliebteste
Forschungsobjekt der nordischen Germanistik als auch der gehegteste Haus-
schatz des nordischen Lesepublikums. Ihre prachtvollen Originalpergamente
stellen die teuersten Schátze nordischer Btichereien dar, ihr EinfluB ist im Leben
und in der Kunst des gesamten Nordens zu jeder Zeit seit ihrer Bekanntwerdung
bestimmend und stilbildend gewesen. Jede neue Epoche der nordischen Kultur
ist eine neue Metamorphose ihrer Bildung mit diesem Element. Die schwedische
Romantik inspirierte sie zu dem gröBten Werk schwedischer Literatur, zu Tegners
Frithjofsage; die dánische Romantik bewahrte sie durch ihre kernige Antithese
davor, ein bloBes Epigonentum der deutschen Romantik zu werden, indem sie
Oehlenschláger und seine Schule auf den festen Boden ihres Volkstums stellte.
Das norwegische Volk las sich an ihr zum nationalen BewuBtsein wach; seine
politischen Freiheitskámpfe im vorigen Jahrhundert werden durch sie nicht min-
der angeregt als seine groBe Dichtung. Ivar Aasen entdeckte durch seine Studien
der islándischen Sprache die altnordische Urwtichsigkeit der norwegischen
Bauerndialekte, schrieb seine „Norwegische Grammatik“ und sein bertihmtes
„Landsmaals-Wörterbuch“ und gab somit seinem Volk seine eigene Sprache
wieder. Eine Tat, die mehr denn alles andere die völkische Wiedergeburt Nor-
wegens gefördert hat. Björnson findet an Snorri Sturlusons Königsgeschichten
seinen Stil. Ibsen schreibt seine Jugendwerke im Stil der islándischen Sagas.
Endlich schreibt in unserer Zeit Sigrid Undset ihre weitverbreiteten Romane nach
dem Vorbild der alten islándischen Werke.
48