Mitteilungen der Islandfreunde - 01.12.1935, Qupperneq 16
einander zu wohnen, auf ausgedehnten, einsamen Triften. Aber der Mensch ist
ein geselliges Wesen, und wo es nicht anders geht, bevölkert er seine Einsamkeit
mit seinen eigenen Traumen. Er projiziert sich selber gleichsam auf seine Um-
gebung. Das kleine islandische Volk wurde von der Weite seines grofien, wilden
Landes völlig verschlungen, aber es baute es voll mit den Gestalten seiner Phan-
tasie, einer Phantasie, die vor nichts haltmachte und wie ein wucherndes Schling-
gewachs die ungeheure Landschaft umrankte. Jeder Berg, jeder Hiigel, jedes
Tal wurden mit trauten, anheimelnden Namen beseelt, aus denen Erinnerungen
sprachen, Sagen geisterten. Jeder Tote lebt in seiner Sage fort, einem Leben, das
fur immer wahrt, und so fiillte sich die Gegend immer mehr mit geselligen Scha-
ren erdichteter Gestalten. Die Realitat, die unlegendare Wirklichkeit, die ihnen
auch in diesem Scheindasein der Dichtung weiterhin beschieden wurde, klart
vielleicht am besten úber die schöpferische Absicht ihrer Meister auf. Diese Dich-
tung war kein Wolkenflug, ihre gediegene Wahrhaftigkeit ist aus der Not gebo-
ren, die die frommste Regung aller Kunst ist: aus dem Bedúrfnis nach Lebens-
illusion.
Scheint somit der psychologische Ursprung dieses Schrifttums aus der islan-
dischen Landschaft heraus erklárt zu sein, so legitimiert es sich vollends als das
unbestrittene Eigentum seines Volkes, sobald wir einen Blick auf dessen Leben
und Entwicklung werfen. Denn — ist diese alte und edle Kunst, wie wir schon
gesehen haben, anderen Völkern eine schier unschátzbare wertvolle Anregung
gewesen, eine epochemachende klassische Uberlieferung: dem islándischen Volke
war sie das Leben selbst. Ihr verdankt es, daB es durch alle Nöte jahrhunderte-
langer politischer Sklaverei seine Sprache und somit sein Volkstum bewahrt hat.
Ihrem hohen, heroischen Geiste allein, ihren alle Finsternisse seiner trostlosen
Geschichte uberstrahlenden Vorbildern verdankt es auch noch, daB es sich zu
einer neuen Freiheit und zu fruchtbarem, arbeitsfrohem Dasein hindurchzu-
kámpfen vermochte. Denn von ihr gilt, was einst ein neuerer islándischer Dich-
ter úber die islándische Sprache sang — und sie ist ja selbst die unverlöschbare
Fackel dieser Sprache:
In furchtbaren Zeiten bist du deinem Volke eine göttliche Mutter gewesen,
denn du warst die Brust, welche seinen Hunger und Durst stillte. Sein Her-
zensschutz warst du, da keine Sonne mehr schien, du Allgewaltige, die du allem
zu trotzen vermagst: Knechtschaft und Not und Pest. SúBer als Wein dúnkt
mich dein Sang, und wer ihn vernimmt, dem jubelt das Herz, auch wenn es
verblutet.
So ist es vielleicht am Ende sogar fúr das islándische Volk zu verschmerzen,
daB es der Schátze dieser Kunst beraubt ward und auch noch ihrer Ehre; denn
sie gab ihm dennoch mehr als Schátze und Ruhm: ihren Geist, der Leben ist.
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