Mitteilungen der Islandfreunde - 01.12.1935, Síða 11
werke von Snorri Sturluson gar nicht genug tun; es mag wohl sein, daB bei alle-
dem hie und da ein Superlativ gef allen ist, der sieh ein wenig iiberschlug, wie etwa
eine ÁuBerung jenes Gelehrten iiber die Edda, ,,sie stelle alle bisher bekannten
heiligen Biicher in den Schatten und ihre Entdeckung bedeute eine Weltwende
im Geistesleben aller gesitteten Lánder ...“ Indessen, solche Yerstiegenheiten
sind gar nicht einmal unentschuldbar angesichts einer so gewaltigen Úber-
raschung: hatte doch der Norden sozusagen iiber Nacht entdeckt, was sich keiner
hátte tráumen lassen: námlich gewissermafien sein eigenes klassisches Altertum,
seine eigene Antike. Gleichsam durch eine wunderbare Erschiitterung war da,
wie es in der Edda heifit:
aufgestiegen
zum anderen Male
Land aus Eluten
frisch ergriinend —
eine ganze Welt germanischer Vergangenheit von ungeahnter Gröfie der Lebens-
gestaltung und des Geistes. Das war kein Fund, dem man nur ungewöknliche
antiquarische Werte beimessen konnte, vielmehr war hier eine Úberlieferung
zutage gefördert, die fiir den ganzen Norden nichts weniger bedeutete als die
Wiedererweckung seines geschichtlichen Selbstbewufitseins, das schon lángst er-
loschen war. Es wáre wohl nicht abwegig, von einer nordischen Renaissance zu
reden; denn áhnlich wie ehemals der romanische Siiden erlebten jetzt die nor-
dischen Völker, wieder mit ihrer grofien Vergangenheit vertraut und durch ihr
Beispiel angefeuert, eine zweite Jugend; ihr nationales Bewufitsein wurde durch
diese neue Gewifiheit iiber ihren ruhmvollen Ursprung neu belebt und mit ihm
unzáhlige, bisher tief schlummernde Eáhigkeiten. Es láfit sich nicht sagen, wie die
Daseinsentwicklung des Nordens sich ohne die Wirkung dieses altislándischen
Werkes gestaltet haben wiirde; sehr viele der wichtigsten Geschehnisse sowohl
in seiner politischen als kulturellen Geschichte seit etwa 150 Jahren sind jeden-
falls aufs engste mit ihm verquickt. Wie ohne dies alles verlaufen wáre, das láfit
sich wohl schwer ergriinden, indessen — so wenig wie jeder einzelne Mensch
ohne die Richtschnur seines Gedáchtnisses seinen Weg zu finden vermag, ver-
mögen es — wenn ich nicht irre — auch die Völker. Und der Moment, in dem das
altislándische Schrifttum in die allnordische Bewufitseinsspháre trat, war der
Moment, in dem sein geschichtliches Gedáchtnis, nachdem es jahrkundertelang
so gut wie verloren war, aufs neue erwachte. Das geschah nicht etwa andeutungs-
weise, halb verwischt und fragmentarisch; denn diese Literatur war von einer
begliickenden Vollstándigkeit. Nicht allein vermittelte sie liickenlos die altnor-
dische Weltsprache, die bereits im ganzen Norden — aufierhalb jenes vergessenen
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