Mitteilungen der Islandfreunde - 01.12.1935, Blaðsíða 32
Schon im Friiliherbst setzte scharfer Frost und Schneegestöber ein; die Báche
froren zu und vereisten das beste Weideland lángs dem Ufer. Im Winter
wurde dann der Schnee immer schwerer und das Eis immer dicker. Erst kam
die Entbehrung, dann das Hungerleiden, zuletzt schneidender, schmerzvoller
Hunger.
Am letzten Tag der Weihnachtswoche stand Stjarna auf einem Hiigel; sein
Abhang wurde benetzt von klarem Quellwasser, das eine kleine Strecke fort-
sprudelte und dann in der bitteren Kálte erstarrte. Eisiger Ostwind wehte. Die
Stute stellte sich lángs der Windrichtung, den Kopf durch den iibrigen Körper
geschiitzt; sie zitterte wie ein diinner Baum.
Dunkelheit sank herab; der Mond hing fahl in Wolken. Diister und unheimlich
war die Nacht.
Erstarrtes Land und Schweigen des Todes.
Dumpf und drohend nur dröhnten die Ströme, einer im Osten, der andere im
Westen.
Und so stand Stjarna, schauernd und in sich zusammengesunken, bis um Mit-
ternacht; da erhob sie ihr Haupt: lange und festen Blicks schaute sie nach Westen.
Sie sah lichtgriine Weidehánge, sah die Státten ihrer Jugend und das Pferde-
rudel. Erst alles wie in einem Nebel und in weiter Ferne, dann náher und náher
kommend. Der súfie Duft von Gras und Kráutern drang ihr schmeichelnd in die
Sinne. Endlich — endlich war sie daheim.
Eine sanfte, wehmiitige Freude schwamm in ihren Augen; dann blitzten diese
plötzlich auf, scharf und feurig, wie frúher, als die Welt ihr entgegengelacht. —
Schön war es daheim! —
Das Auge fand die von Wasser durchschimmerte Talwiese, glitt iiber sie hin-
weg und den Hiigelhang hinauf: Da stand zuvorderst ihr goldmáhniges Fohlen!
Stjarna zuckte zusammen, sie wollte ihm entgegenlaufen — aber bei der ersten
Bewegung fiel sie nieder. Pfeifend sauste ein Sturmstofi iiber sie hin.
Weit, weit von den Wohnungen der Menschen, auf kahlem, kaltem Basalthii-
gel ruhen Stjarnas Gebeine. Weifi und gebleicht. Stiirme und Schneegestöber,
Sonnenschein und Regenschauer fahren úber sie hin, Tag fiir Tag, Jahr fiir
Jahr.
Es greift mir ans Herz, wenn ich an Stjarna denke, die der Stimme des Ge-
fúhls und der tiefsten Sehnsucht ihres Herzens gehorchte, den Weg verfelilte und
in die Irre der Wildnis ging. Die so viel Qual erleiden mufite, allein, verschollen
und vergessen, in Wúste und Einöde.
Aus: Dýrasögur. Reykjavík 1910
ííbersetzt von Reinhard Prinz
€8