Mitteilungen der Islandfreunde - 01.04.1934, Side 17
Kreise hinausgeht und von friiheren Zeiten berichtet. Die Sprache nimmt
eine altertiimliche Fárbung an, und er baut in wundervoller Prosa Geschich-
ten vor uns auf, von Vertriebenen und Verbannten, die fruher an diesem
Kiistenstrich eine Zuflucht fanden. Miindliche Erzáhlkunst, das, was die alte
Saga in ihrer besten Zeit war, ist also noch heute an einigen Stellen der Saga-
insel lebendig. —
Schon den Kindern spiirt man die Verbundenheit mit ihrer engsten Heimat,
ihrem Hof und ihrem Tal an. Das ist eigentlich merkwiirdig, denn das Gefiihl fiir
die ererbte Scholle ist nicht sehr stark bei den Islándern. Mir ist nur einmal be-
gegnet, daB sich ein Bauer riihmte, seine Ahnen hátten schon neunhundert Jahre
auf diesem Hofe gehaust. Im allgemeinen ist der Islánder freiziigiger, er wechselt
mehrmals in seinem Leben den Wohnsitz, genau so, wie die alten Sagabauern es
getan haben. Aber iiberall im Lande fiihlt er sich zu Hause, und er kann sich
nicht entwurzelt oder verpflanzt vorkommen, wenn er vom Westen in den Nor-
den zieht, denn alle Gegenden der grofien Insel sind durch gemeinsames Schick-
sal enger verbunden als unsere deutschen Landschaften. Seine Kinder lernen die
neue Umwelt bald in ihrem Gewordensein verstehen, und wenn dann etwa aus-
lándische Studenten zu Besuch kommen, so kann der Vater ihnen seinen zwölf-
jáhrigen Sohn getrost als sachkundigen Fiihrer mitgeben zu den historischen
Státten des Tales, verlassenen Siedelungsplátzen, Tempelresten, Grabhiigeln.
Der Junge, der uns fragte, ob es auf Island eigentlich Eisenbahnen gábe (es gibt
keine), dessen einziger Eindruck von einer „Stadt“ der náchste Hafenplatz mit
80 Einwohnern war, weiB in seinem Tale griindlich Bescheid. Er zitiert zu jedem
alten Denkmal wörtlich die Sagastellen, die es bezeugen und glossiert mit dem
eiskalten kritischen Humor der Islánder die Leistung eines dilettantischen Alter-
tumsfreundes, der an der vermeintlichen Stelle eines heidnischen Tempels ein tie-
fes Loch in die Erde gegraben hat: „Ich möchte doch wissen, ob hier ein Fuchs
oder ein Archáologe gebuddelt hat!“ Er erzáhlt, daB die Gelehrten von Reykjavik
die Gebeine des Helden aus diesem Tale, Hrafnkels des Freypriesters, ausgegra-
ben und in die Hauptstadt gebracht haben: „Nun, gut hat man ihn ja nicht be-
handelt hier im Tale, wáhrend er lebte, da mag er es vielleicht auch jetzt besser
haben in seinem Glaskasten im Museum als hier in der Erde. Aber er hat es sich
doch was kosten lassen, dies Tal wiederzugewinnen, und so gehörte er doch
wohl hierher, auch im Tode.“
In der Hauptstadt gibt es natiirlich eine ganze Menge Entwurzelter, die den
Weg zu dem Kern ihres eigenen Landes und Volkstums schwerer finden als wir
Fremden, die mit offenen Augen das Land durchwandern. Doch es gibt auch an-
dere, die sich noch nicht aus ihrer schicksalsgegebenen Umwelt gelöst haben. Der
beste, váterliche Freund von vier „Generationen“ deutscher Austauschstudenten
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