Mitteilungen der Islandfreunde - 01.04.1934, Síða 45
war auf 14 km vorgeriickt. Die Pausen wurden immer langer. Zuletzt war es nur
nocli ein Vorwártsstolpern. Dann ging es nicht mehr. Nicht einen Schritt mehr. Es
fehlten noch 300 m am vorgenommenen Ziel. Aber es wáre Wahnsinn, die noch
erkámpfen zu wollen. Wir muBten lagern. Heute war der lángste Tag, und so war
des Lagers Name „Sonnenwend“ gegeben. Ohne etwas zu kochen, krochen wir so-
gleich ins Zelt und in die Schlafsácke. Aber wir hatten in S^/gStiindigem Marsche
4,8 km, die bisher gröBte Tagesleistung, zuruckgelegt. Den ganzen Tag iiber
kámpften Nebel und Sonne miteinander. Die Sonne schien zu siegen, aber der
Nebel siegte. Unsere Hoffnung, die Mitternachtssonne zu sehen, wurde zunichte.
Gegen Abend fiel feiner Regen aus dem Nebel. Um Mitternacht war es Nullgrad
drauBen, starker Siidwest, nebellos aber ganz bedeckt.
Um 2Uhr 30, am 22. Juni, brachen wir auf. Ringsum Nebel, wenn auch nicht
ganz dick. Ein schwacher siidlicher Wind wehte. Der Firn war gut. Wir beschlos-
sen, die Skier zu benutzen. In der Tat ging das Ziehen jetzt ganz gut. Nachdem
wir schon ein ganzes Ende gelaufen waren, wandte ich mich zuriick, um festzu-
stellen, wieviel wir zuriickgelegt hatten. Der Kilometerzáhler stand noch immer
auf 14,7 km. Der seitliche VerschluBdeckel des Geháuses fehlte. Der Záhler muBte
iiber Nacht eingefroren und dann wáhrend des Marsches von innen heraus
gesprengt sein. Der letzte Radkranz schien beschádigt zu sein. Das war eine
schlimme Entdeckung. Einen Ersatzzáhler hatten wir nicht. Es muBte versucht
werden, den Deckel zu finden und den Apparat auf irgendeine Weise wieder in
Ordnung zu bringen. Wir kehrten um und suchten. Der eine rechts, der andere
links. Der Schlitten verschwand im Nebel hinter uns. Nach etwa 500 m fanden
wir tatsáchlich den kleinen Deckel von der GröBe eines 50 Pf.-Stiickes imd fast
gleichzeitig ein winziges Zahlenstuck aus dem Hundert-Meter-Kranz. Aber so
viel wir uns auch miihten, es war unmöglich, den Záhler wieder in Gang zu brin-
gen, da neben der Liicke im Zahlenkranz auch viele der eingreifenden Záhnchen
abgebrochen waren. Was nun ? Wir saBen mitten auf dem Eise. Und von nun war
die Entfernungsmessung dahin und damit nahezu der ganze Wert der Routen-
aufnahme. Das war eine schmerzliche Erkenntnis. Es blieb nur noch eine einzige
Möglichkeit, den Weg in etwa zu messen: Schritte záhlen. Als ich zum erstenmal
las, daB auf der Wegenerschen Vorexpedition im Jahre 1929 Dr. Loewe auf dem
grönlándischen Inlandeise tagaus, tagein jeden Schritt gezáhlt hatte, der zuruck-
gelegt wurde, da gruselte es mir vor dieser Leistung. Dann hatte ich selbst ange-
fangen, auf den LandstraBen zu záhlen. Aber jetzt war es bitterer Ernst gewor-
den. Da der Wind inzwischen zugenommen hatte und die Richtung ziemlich giin-
stig war, setzten wir unser Segel. Jetzt brauchten wir fast nichts mehr zu ziehen,
nur lenken, und konnten lange Schritte machen. Der Wind wurde heftiger. Der
Schlitten wollte selbst die Fuhrung tibernehmen. Ich muBte zurúck und bremsen.
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