Mitteilungen der Islandfreunde - 01.12.1935, Page 13

Mitteilungen der Islandfreunde - 01.12.1935, Page 13
Es ist nun angesichts dieser Tatsachen durchaus nicht zu verwundern, wenn die nordischen Völker Skandinaviens sich mit diesem Werk so verwachsen fiih- len, als sei es ihr eigenes; dieses höchst natúrliche Gefuhl hat sich denn auch, und zwar fast gleichermaBen bei ihnen allen, bald zu der Illusion verdichtet, es han- dele sich hier in der Tat um ihre eigene Leistung. Diese Illusion hat ihren Aus- druck gefunden in jenem philologischen, sich wissenschaftlich dunkenden, jedoch völlig unwissenschaftlichen Generalnenner, dem das gesamte Werk seit seiner Bekanntwerdung seitens nordischer Forscher unterstellt wurde, namlich: alt- nordische Literatur. Diese Bezeichnung, die eine Art skandinavischen Kom- promiB unter sich darstellt, ist schon lángst in allen Lándern und Sprachen zu einem feststehenden Begriff geworden, der nicht mehr wegzudenken ist, nichts- destoweniger ist er einer der árgsten Irrttimer dieser Art. Denn diese Literatur ist altislándisch und kann bei náherer Kenntnis nur als altislándisch bezeichnet werden. Es soll hier nicht weiter untersucht werden, wie dieser Irrtum „altnordische Literatur“ anfangs entstanden ist. Er mag sich jedoch zunáchst sowohl durch den allgemein nordischen Gehalt seines wichtigen Teils der Werke eingebúrgert haben als auch durch die Gewohnheit, Island und das islándische Yolk als einen Teil des dánischen Reichs anzusehen, dem keine Sonderstellung zukáme. Gleich- viel: es ist ein Irrtum, und zwar einer, der sich um so mehr herausstellt, je náher man ihn besieht... Diese Literatur ist, ungeachtet ihrer hohen Bedeutung fúr den tibrigen Nor- den, welche ihr sogar — wenn man so will — den Hauptanspruch einer Welt- literatur zukommen láBt, dennoch eine islándische, und zwar eine spezifisch is- lándische Literatur, weil sie erstens und allein in Island und durch Islánder ent- standen ist, ferner, weil sie zuerst und vor allen Dingen eine islándische, sonst nirgends im úbrigen Norden vorzufindende Eigenart aufzuweisen hat, schlieB- lich aber auch, weil sie, wie jede andere nationale Leistung eben da, wo sie wuchs und war, námlich in Island und innerhalb des islándischen Volkstums, ihre wich- tigsten Folgen gezeitigt hat. Gegen die erste Behauptung, diese Literatur sei von Islándern geschaffen worden, ist von norwegischer Seite vielfach der Einwand erhoben worden, jene Islánder seien ja nichts anderes als Norweger gewesen, die sich zwar in Island niedergelassen, jedoch durch ihre stándige Verbindung mit dem Mutterlande Norwegen eben waschechte Norweger geblieben seien. Nun, die islándische Lite- ratur ist in Island entstanden so ungefáhr 300 Jahre nach der Auswanderung der Islánder aus Norwegen, also erst zu einer Zeit, als sie vermutlich ihrem neuen Lande (das sich, nebenbei bemerkt, was die Natur anbelangt, ganz und gar von Norwegen unterscheidet) so weit assimiliert waren, daB man sie wohl als ein Volk 49

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