Mitteilungen der Islandfreunde - 01.12.1935, Page 15
rein nordischen Eigenschaft nicht allein als literarische Tat ausschlieBlich auf Is-
land beschránkt, sondern ist auch seiner Entstehung nach noch, soweit sie nicht
als rein phánomenal hingenommen werden muö, durch die islándischen Natur-
und Lebensumstánde als scheinbar notwendiger Yoraussetzung geradezu be-
dingt und allein erklárbar. Ich sage: soweit man sie nicht rein als Phánomen hin-
nimmt, denn letzten Endes wird man sich wohl damit als Phánomen abfinden
mússen, daö erst diesem kleinen, weitentfernten Völkchen der Ruhm beschieden
wurde, die alte nordische Weltsprache, die sich einst uber den ganzen Norden
und einen groöen Teil von England erstreckte, als Schriftsprache festzulegen. Es
ist indessen mitnichten minder phánomenal, mit welch unerhörter, fast modern
anmutender Kultur der Kritik die Entwic.klung dieses seines Schrifttums von-
statten ging. Denn volle zweihundert Jahre vor dem Beginn der italienischen
Renaissance, zu einer Zeit also, als noch der Geist sámthcher europáischen Völker
in barbarischer Zeitbefangenheit hindámmerte, besaö dieses kleine islándische
Volk schon die Fáhigkeit des historischen Denkens und schrieb seine geschicht-
lichen Werke mit einer Unbestechlichlceit des Urteils, wie dies eigentlich erst im
19. Jahrhundert hier drauöen in Europa geschieht. Denn diese alten Sagas, wie
man sie nennt, sind ungeachtet ihrer romanzenhaften Poesie eminent sachlich
inbezug auf ihre geschichtlichen Berichte; ihre dichterische Lebendigkeit ver-
danken sie dem glucklichen Umstand, daö sie aus dem ungetrubten Quell der
múndlichentíberlieferung geschöpft sind, sie sind aber darum nichtweniger wahr.
Jene alten Schreiber glaubten, wiewohl sie, wie schon gesagt, gute Christen wa-
ren, nicht an Legenden; freilich mögen sie es hierin leicht gehabt haben — die
Kirche war damals in ihrem Lande immer noch jung, und die Presse war noch
nicht auf der Welt.
Und doch, so phánomenal das letzten Endes aucli alles bleiben mag, wenn je-
mand nach Island kommt, wird ihm vieles an dem Phánomen erklárlich werden.
Denn Island ist heute immer noch dasselbe, was es vor 1100 Jahren war, als
seine ersten Ansiedler dorthin verschlagen wurden — ein Land der groöen Leere.
Und so kann es wohl sein, daö auch der Nichtislánder hier etwas Ahnliches ahnen
wird, was jene alten Wikinger damals empfanden: daö man mit diesem Lande
allein als Dichter, nur als Dichter fertig werden kann. Die groöe islándische Dich-
tung (die tibrigens durchaus nicht mit jenem altberúhmten Schrifttum erschöpft
ist) ist der Kampf, der notwendige Kampf des Menschengeistes mit der Leere.
tíberall, wo die nordischen Wikinger hinkamen, fanden sie fruchtbare, freund-
liche Lánder vor, wo das Leben bereits gedieh, von dem sie aufgenommen wur-
den, um mit ihm fortzugedeihen; sie verschwanden dort als Fremdlinge, als
welche sie gekommen waren, und hinterlieöen keine Spuren. Nur in Island emp-
fing sie ein leeres, hartes Land, das sie durch seine Kargheit zwang, weit von-
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