Mitteilungen der Islandfreunde - 01.12.1935, Qupperneq 49
Im letzten Teil, der das dem Verf. der Saga
zur Verfugung stehende Material behandelt,
wird dargetan, von welchen Seiten her aufier
einer speziellen Gisliiiberlieferung dem Verf.
Stoff zufloB; sog. „stehende Motive“ und
„volkstiimliches Gut“ nach seiner stilisti-
schen wie stofflichen Seite findet sich wieder
und der Tatsache entsprechend, daB dieSaga
die prosaische Erbin des Heldenliedes ist, hat
der Geist des Heldenliedes den Verf. stark be-
einfluBt (im Stofflichen beschrankt sich der
EinfluB auf die bekannte Strophe, in der
Gísli seine Schwester mit Gudrun-Kriemhild
vergleicht; daran ist aber der Verf. nicht be-
teiligt). Zum SchluB bekommen wir ein ziem-
lich klares Bild, wie etwa die tlberlieferung
iiber GisU gewesen sein mag, bevor der Kunst-
ler den Stoff meisterte.
Es ist nicht möghch, den reichen Inhalt des
Buches auch nur andeutend zu erschöpfen;
hervorzuheben aber ist die staunenswerte
Sicherheit der Linienfiihrung in aUen Kapi-
teln und die vollstándige Ausniitzung der ge-
samten wissenschaftUchen Literatur.
Eragen wir aber nach dem Gesamtergeb-
nis, so ist dies der angegebene Nachweis, daB
bei dieser Saga von einer allmáhlichen Ent-
stehung und Ausbildung nicht die Rede sein
kann; es Uegt die bewuBte Arbeit des schaf -
fenden, nicht nur ausgestaltenden, sondern
völUg neuaufbauenden Kiinstlers vor. Diesen
aber denkt sich P. (ich meine mit Recht), mit
der Kielfeder in der Hand.
Wie das bei anderen Sagas ist, bleibt ein-
zeln zu untersuchen. Das ist der einzige Weg
zu fortschreitender Erkenntnis.
Von Druckfehlern ist sinnstörend nurS.42,
Z. 9 v. u., wo „vorbereitet" steht statt „vor-
beireitet“. W. H.
Vrsula Zabel: Grettir, Ein Leben in 11 Ab-
schnitten. 1931. — NordeninNot, Schau-
spiel in 5 Aufziigen. 1934. Adolf Klein Ver-
lag, Leipzig.
Die Welt der Antike wáre nur Studiumsob-
jekt der Gelehrten gebUeben, nicht aber ein
bedeutungsvoUer Bildungsfaktor im Leben
unseres Vokes geworden, wenn nicht immer
wieder ihre Gestalten und Stoffe von Dich-
tern aller Zeiten und aUer Lánder ergriffen
und neu geformt worden wáren. Die Dichter
sind nun einmal wirksamere Interpreten als
die Gelehrten. In unsern Tagen will eine bis-
lang fiir die AUgemeinheit noch so gut wie un-
bekannte Kulturwelt einen entscheidenden
EinfluB auf unser Geistesleben gewinnen: der
alte Norden. UnendUch wertvoUe Vorarbeiten
sind geleistet worden, um diesem Kultur-
woUen eine tragende Grundlage zu schaffen.
Ausgezeichnete Ubersetzungen der gesamten
altnordischen Literatur, eingehende und ver-
stándnisvoUe Auslegungen der ÚberUeferung
Uegen vor uns. Jedoch, das reicht nicht aus,
jene altgermanische Welt,deren groBe innero
Gestaltungskraft wir nur erst ahnungsvoll zu
bewundern vermögen, wirksam und lebendig
fiir uns zu machen. „Eine geniale Dichter-
persönUchkeit wird vieUeicht einmal diese
Welt fiir Deutschland, fur die gesamte ger-
manische Welt und fur die unverkennbar ver-
wandte Geistesrichtung des 20. Jahrhunderts
zu stárkerem Leben erwecken.“ (Jón Leifs.)
Erst dann, wenn wir schöpferisch aus eige-
nem Erleben heraus uns das Uberlieferte zu
eigen machen, haben wir die Berechtigung
erworben, uns die „Erben Germaniens“ zu
nennen. Diese Tat ist fur unsere Zeit noch
nicht getan worden. Aber WUle und Ansatz
dazu sind bereits da. Bemerkenswerte Ver-
suche in diesem Sinne sind die dramatischen
Arbeiten Ursula Zabels. Es ist gewiB ein un-
geheuer schweres Unternehmen, die an sich
schlechthin voUendete DarsteUung der alt-
islándischen Familienromane in dramatischer
Formgebung abzuwandeln. Doch Ursula Za-
bel konnte, wie ihre Leistung es zeigt, dieson
Versuch wagen. Ihr „Grettir" ist einc Dra-
matisierung der groBen Saga von Grettir As-
mundssohn. Das Leben und Schicksal dieses
Mannes ist ergreifend genug, um Gegenstand
eines Dramas zu werden. Grettir istder stárk-
ste und tapferste Mann seiner Zeit. Eine un-
ertrághche Unruhe erfúUt ihn, wenn er taten-
los seine Kraft nicht erproben kann. Sein
Ruhm ist weit verbreitet, doch „sein Glúck
ruht auf einem roUenden Rad“, und es zeigt
sich bald an ihm, daB „Glúck und Tapferkeit
zwei ganz verschiedene Dinge sind“. Ein
Fluch fáUt in sein Leben; er wird geáchtet.
Fast 15 Jahre lebt er friedlos und gehetzt,
doch unbesiegt, in der Acht, bis Verrat und
Zauberei ihm den Tod bringen. Gewaltig an
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